„Giselle“ – Ein Ballettabend der Debüts
So viele Sternchen neben dem Namen der Tänzerinnen und Tänzer habe ich noch nie auf dem Programmzettel gesehen. Sternchen, das bedeutet: Sie oder er tanzt diese Rolle zum ersten Mal. Schwierig und aufregend! Nicht nur für Nina Poláková in der Titelrolle, auch für Denys Cherevychko als Herzog Albrecht, das entzückende Bauernpaar Natascha Mair und Dumitru Taran. Auch Bauernmädchen und -burschen, Winzerinnen und Winzer und nahezu alle im finsteren Wald tanzenden Wilis haben ihre persönliche Premiere. Der Applaus tröpfelt anfangs recht zäh, steigert sich aber am Ende zu begeisterter Zustimmung für die Tänzer*innen und auch den Dirigenten Valery Ovsyanikov.
Dass der Abend sich so schleppend entwickelt, kann nicht am Dirigenten liegen. Ovsyanikov kennt das Orchester, hat 2016 alle Vorstellungen von Manuel Legris’ Choreografie „Le Corsaire“ dirigiert und ist auch schon bei Nurejew-Galas am Pult gestanden. Adolph Adams Musik zu „Giselle“ hat der in aller Welt dirigierende musikalischen Leiter der Waganova Ballettakademie in Sankt Petersburg im kleinen Finger. Premierenfieber kann ihm nichts anhaben.
Im Gegensatz zu den Tänzer*innen. Kein heiteres Tänzeln und schelmisches Necken, kein fröhliches Getändel und schon gar keine herzerwärmende Liebe im ersten Akt. Konzentriert und ernsthaft setzen Poláková und Cherevychko Schritte und Sprünge, perfekte Automaten, statt Bewegungen eines jungen verliebten Paares. Dass diese Liebe ohnehin unmöglich ist, weiß zwar das Publikum – steht doch auf dem Programmzettel, dass Albrecht schon der Herzogstochter Bathilde angelobt ist –, aber nicht die von ihm verführte und in ihn verknallte Giselle. Choreografin Elena Tschernischova hat sich ausgedacht, dass Giselle eine Halbschwester dieser Bathilde ist, weil deren Vater, der Herzog von Kurland, Giselles Mutter verführt hat. Das aber weiß das Publikum nicht und ist in Wahrheit völlig unerheblich. Tschernischovas Idee, schon im ersten Akt ein farbloses Bühnenbild (Ingolf Bruun) und graugraue Kostüme (Clarisse Praun-Maylunas) zuzulassen, führt die ursprünglich erdachte Handlung des „phantastischen Balletts“ – buntes Treiben auf dem Dorf, Krönung der Winzerkönigin, Giselle im Liebesglück – ad absurdum. Nur aus Marketinggründen kann diese blasse, langweilige Ausstattung des ersten Aktes als „sinnhaft“ bezeichnet werden.
In diesem trüben Ambiente ist es schwer, Liebesfreuden und Frohsinn zu vermitteln. Eno Peçi, der 2011 als Albrecht gefallen hat, schleicht nun als eifersüchtiger Hilarion umher – eine undankbare Rolle, in der Peçi erst im 2. Akt, wenn Hilarion von den rasenden Wilis in den Tod getanzt wird, zeigen kann, welch hervorragender Tänzer er ist. Erst die Ankunft der „Bäuerinnen und Bauern“ – auch für diese mehrheitlich ein Rollendebüt, aber in der Gruppe tanzt es sich auch mit Fieber etwas leichter –, bringt ein wenig Bewegung ins triste Dorf. Ersten wirklich begeisterten Applaus erntet das „Bauernpaar“, Natascha Mair und Dumitru Taran. Ein bestens gelungener Pas de deux voll Wärme und Frohsinn. Da taut nicht nur das Publikum auf, auch das Solopaar gewinnt an Lockerheit, und als die betrogene Giselle dem Wahnsinn verfällt, findet Poláková endlich zu ihrer wahren Größe. Kalte Schauer rieseln den Rücken hinab. Eine Wahnsinnsszene, wie sie selten zu sehen ist.
Und auch als verzeihende Wili reißt Nina Poláková das Publikum zu Beifallsstürmen hin. Denys Cherevychko darf endlich springen und ist wieder der eindrucksvolle Tänzer, wie ihn das Publikum liebt. Rebecca Horner ist eine majestätische Myrtha, Königin der Wilis, weniger gnadenlos, steif und kalt, zeigt sie auch einen Rest Menschlichkeit. Bestens gelingt die Arabesque sämtlicher Wilis. Das Publikum genießt diesen Höhepunkt des 2. Aktes.
So kommt dieser Debut-Abend doch zu einem guten Ende, die Protagonist*innen dürfen vor den Vorhang, Poláková und Cherevychko werden mit Bravorufen bedankt und können beruhigt ihrer nächsten Vorstellung am 24. September entgegensehen.
„Giselle“, phantastisches Ballett in zwei Akten von Théophile Gautier, Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Jean Coralli nach Heinrich Heine. Choreografie und Inszenierung: Elena Tschernischova nach Jean Coralli, Jules Perrot, Marius Petipa. Musik: Adolphe Adam. Dirigent: Valery Orsyanikov. Erste Vorstellung der Serie, 23.9. 2017, Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Nächste Vorstellungen: 23., 26.9. 2017 mit Liudmila Konovalova und Robert Gabdullin.
Am 28.9. und 1.10. 2017 tanzen Maria Yakovleva und Masayu Kimoto die Hauptrollen.