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Saisonausklang in St. Pölten: „En avant, marche!“

Wim Opbrouck: Musik nur noch mit Tschniellen. © Phil Deprez de

Alain Platel hat gemeinsam mit seinem Regiekollegen und Autor Frank Van Laecke und dem Komponisten Steven Prengels ein rauschhaftes Stück konzipiert, in dem er professionelle Blasmusiker_innen und Performer_innen mit einer Amateurkapelle zusammenspielen lässt. Im Festspielhaus St. Pölten war das die für Grenzüberschreitungen offene Stadtkapelle Tulln. Freudiger Jubel zeigte den Künstler_innen und den Tullner Blechbläser_innen und Perkussionisten wie sehr das Publikum dieses Sprech-, Musik- und Tanztheater genossen hat. Ein außergewöhnlicher Abend.

Es scheint mir müßig, diesen so fulminanten wie herrlich leichten, so witzigen wie gefühlvollen, komischen wie traurigen, so ernsthaften wie ironischen und auch ergreifenden Abend nachzuerzählen. Ich halte mich an die Idee des Autorenteams dieser fein abgestimmten Inszenierung, die in St. Pölten bereits ihre 100 Vorstellung erlebt hat. Wie man dem Kalender der ballets C. de la B. ersehen kann, ist das Ende der Tournee nicht absehbar. Bläsergruppe mit Tabourmajorinnen: Vorwärts, marsch!  © Phil Deprez

Die Absicht ist es, auf unterhaltsame Weise die Blechblasmusik aus dem Mief von Bierzelt, Kaserne und Karneval herauszuziehen. Dazu werden Amateurinnen, also Liebhaberinnen des goldglänzenden Blechs, engagiert, die gemeinsam mit professionellen Musikern spielen. Das das wunderbar funktioniert, hat dieser großartige Abend zum Saisonschluss im Festspielhaus St. Pölten gezeig.. Doch ohne Tiefsinn geht bei Alain Platel und les ballets C. de la B. gar nichts. Also wird  in dieser musikalischen Performance, wie sollte es anders sein, das Leben und das Sterben gespielt. Was sonst!

Der Tänzer Hendrik Leonb mit Taboumajorin Chris Thys. © Phil DeperezHerausgeholt aus der dumpfen Ecke (in der die Tullner Stadtkapelle gar nicht steckt, wie zu hören ist), hat die Musik Steven Prengels, indem er einige Statuen der Opern-und Konzertmusik vom Sockel stieß und ihre wieder erkennbaren Melodien für die Musiker_innen arrangiert hat. Wagner als von der CD eingespielte Ouvertüre, Beethoven in Blech und Schubert, auch. Wirklich! Die unantastbare „Winterreise“, nur mit dem Mundstück eines Horns gespielt. Großartig und auch für Konzertabstinenzlerinnen ein Genuss. 
Zum Glück nicht der Schluss, obwohl das unter die Haut kriechende Lied vom „Leidermann“ vom Tod handeln. Der Schluss ist eine Hymne an das Leben.

Griet Debacker und Chris Thys sind zwei bezaubernd lächerliche, innig liebende, plappernde und auch herzzerreißend heulende Tambourmajorinnen. Im goldenen Flitterkleid wirbeln sie gekonnt ihren Stab, aber betätigen sich auch beim Aufstellen der Sessel und Notenpulte, machen die Arbeit des Orchesterwarts zur Performance. Und erst der fantastische Schauspieler Wim Opbrouck. Multitalentiert, zeigt er nicht nur das Erhabene im Niedrigen und das Komische im Erhabenen, sondern spsingt und sielt auch, tanzt und gurgelt und speit Fontänen, schöner als der Wiener Hochstrahlbrunnen. Obwohl er eher in der Schwergewichts-Klasse agiert, wird er im exorbitanten Pas de deux mit dem Tänzer Hendrik Lebon, der für diese formidable Aufführung eigens Zugposaune gelernt hat, gewirbelt und gehoben als wäre er eine zierliche Ballerina. Ohne seine Mitspielerinnen in den Schatten zu stellen, zeigt Opbrouck eine Bühnenpräsenz selbst dann, wenn er als Leiche auf Händen getragen wird. Angst vor dem Loslassen:Griet Thys, Wim Opbrouck. © Phil Deprez
Da wissen wir, dass der krebskranke Posaunist, den Opbrouck mimt, der nur noch die Zimbeln schlagen kann, als gleich zu Beginn vom Sessel gefallen ist  und liegen bleibt, während das Spiel weitergeht und die anderen ohne ihn zu sehen über den Körper hinweg steigen, uns sagen will, dass wir alle sterblich sind.

„Der Tod ist vorbeikommen“ ist sein erster, aus einem Einakter Luigi Pirandellos zitierter, Satz. Sein letzter lautet: „E tutti! – Und alle!“. Dann nimmt er seine Posaune, die er sich jede Nacht auf die Brust gelegt hat, und beginnt den ewigen Schlaf. Die Feier des Lebens war eine Rückblende. Trost spendet Gustav Holst mit „Jupiter, dem Bringer der Fröhlichkeit“.

Die 100 Minuten vergehen im Flug, es darf gelacht und geweint werden, sich der Musik hingegeben und über all die überraschenden Einfälle und die sensible Inszenierung gestaunt. Und ich freue mich auch, dass in vielen Sprachen gesprochen wird: Italienisch, Französisch, Flämisch und auch Deutsch. Platel und sein Team wollen verstanden werden. Von allen. International sind sie so wie so.

Ein wahrhaft festlicher Abend, den die flämischen Musiker noch weit in die Nacht hinein verlängern und das feiernde Publikum mit ihrer Spielfreude zum Tanzen animieren.

Alain Platel / Frank Van Laecke / Steven Prengels: „En avant, marche!“, Musik und Performance unter Mitwirkung der Stadtkapelle Tulln.Rahmenprogramm vor und nach der Vorsteung: En Blechbläserensemble und das Aureum Saxophonquartet, alle  Studierende der Universität für Musik und Darstellende Kunst. 10 .uni 2016, Festspielhaus St. Pölten.