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Ein Brautkleid aus Schweiß, Blut und Tränen

Das Brautkleid für eine Prinzessin wird genäht.

Lacrima, Träne, nennt die französische Regisseurin Caroline Guiela Nguyen ihr Theaterstück, mit dem sie den bitteren Kontrast zwischen struktureller Gewalt im Kapitalismus und den Leiden der Betroffenen, den arbeitenden Menschen und ihren Familien aufzeigt. Caroline Guiela Nguyen ist zum ersten Mal bei den Wiener Festwochen zu Gast und hat mit Lacrima eine Uraufführung mitgebracht, die am 31.Mai in der großen Halle im Museumsquartier heftig akklamiert worden ist.  

Am Boulevard steht die Braut im Mittelpunkt, auf der Bühne sind es die Sorgen und Schmerzen der Arbeiterinnen. Prinzipiell geht es um ein Hochzeitskleid einer Prinzessin, angelehnt an Lady Dianas Kleid. Erzählt wird der Entstehungsprozess und zugleich die persönliche Motivation der ArbeiterInnen. Beleuchtet wird auch die zwielichtige Dynamik zwischen europäisch, postkolonialen Ansprüchen an Transparenz und ethischer Arbeitsweise in einem Produktionsprozess der an Kapital und Gewinn für die reiche Elite in privilegierten Ländern ausgelegt ist.
Mode und Haute Couture werden als Ausgangspunkt für das Lüften der Geheimnisse genommen: Machtverhältnisse im Kapitalismus, Leistungsdruck und Arbeitszwang sowie Karriere- und profitorientiertes Verhalten stehen in enger Verwobenheit mit den persönlichen Erlebnissen der Charaktere. Besonders die Erwartungshaltung der Erwachsenen an eine erfolgreiche Identität knickt im Laufe des Stückes, wenn Krankheit und Arbeitsunfähigkeit aufgeklärt werden.  DAm Beginn der  Arbeiten steht das Schnittmuster, das ein Designer entwirft.ie Eltern-Kind-Dynamik beschäftigt sich mit Abwesenheit, häuslicher Gewalt und Stille, mit der emotionalen Verletzlichkeit der Eltern, die aus Scham vor Versagen und der Angst, nicht genug zu sein, im Kummer versinken.
Im Dialog des Stückes wird darauf hingewiesen, dass Schweiß, Tränen und Blut in das Hochzeitskleid fließen müssen: Perfektionismus und Schönheit auf Kosten derer, die es herstellen. Perfektionismus und Schönheit gehen zu Lasten derer, die die schwierige Arbeit erledigen.Fragen zur Solidarität kommen auf, werden jedoch nicht beantwortet, sondern dem Publikum selbst überlassen. Wie reagieren Menschen individuell auf Unterdrückung? Welche Gruppendynamiken entstehen, wenn private und berufliche Hierarchien aufeinandertreffen?
Die einzelnen Geschichten der Menschen treffen aufeinander wie die Elemente des Kleides. Sie sind fragile Grundbausteine zwischen Modernität und Tradition. Spitze wird in Alençon hergestellt, Stickerei in Mumbai und das Kleid selbst in Paris. Die verschiedenen Orte werden mittels Zoom-Gesprächen direkt auf der Bühne verknüpft und die Charaktere verorten sich in Ihrer Identität auf authentische Weise regelmäßig neu. Fiktion wird hier als Mittel für eine überzeugende Realitätsdarstellung genutzt. Einige Male wirken Streitgespräche jedoch überraschend lange und es gibt ständig Dialoge. Nach den anstrengenden Stunden in der Fabrik wrten zu Hause private Sorgen. Übertitel müssen laufend mitgelesen werden, um dem Stück folgen zu können, denn es wird auf französisch gespielt und teils auch auf Englisch und Tamil gesprochen. Lacrima wird filmisch erlebt: Die Dramatik baut auf der Ästhetik eines Krimis auf, die durch Wiederbelebungsversuche, hektisches Erleben von Situation und mit Stille und Introspektion gelebt wird. Die einzelnen Geschichten der Menschen treffen aufeinander wie die Elemente des Kleides.Rückblicke und Close-up sind ebenso Stilmittel des Filmes und bringen das Stück in eine gelungene Balance zwischen vertrauter TV- Atmosphäre und Theater. Zeitgemäße Elemente wie Zoom-Konversationen schlagen die Brücke von Nähe und Distanz zum Publikum und helfen Wirklichkeit zu generieren. Die Anonymität, welche durch digitale Kommunikationsformen auftritt, spiegelt auch Machtverhältnisse und Ignoranz dieser Form von Kontakt und Verhältnis wider. Leicht ist es zu kommandieren oder zu beschimpfen, ebenso leicht kann eine unangenehme Situation verlassen sowie präsente Personen im Bild ignoriert werden. Gearbeitet wird unter Aufsicht, Pausen zum Plaudern gibt es kaum.
Es geht um unsichtbare Arbeitskraft, Tradition und persönliche Motivationen zur Arbeit. Kunst, die die höchste Form der Rebellion gegen die Regierung darstellen will, wird scheinbar enthauptet. Obwohl das Thema Schönheit ist, zeigt Lacrima in erster Linie Menschen, die im Kapitalismus kämpfen. Politisch und überraschend berührend, wird die Premiere zurecht mit Applaus überhäuft.

Caroline Guiela Nguyen: Lacrima, Weltpremiere / Koproduktion 30. + 31.5.2024, Wiener Festwochen.
Englisch, Französisch, Tamil, mit deutschen und englischen Übertiteln. Halle E im MuseumsQuartier
Fotos: © Jean-Louis Fernandez