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… und der Tod tanzt mit

Das Liebespaar Armand und Marguerite (Brendan Saye, Olga Esina)

Am 26. März feierten Olga Esina und Brendan Saye ihr Debüt als Marguerite und Armand in John Neumeiers Ballett Die Kameliendame, mitgefeiert haben auch Kiyoka Hashimoto und Masayu Kimoto als Spiegel des Hauptpaares Manon Lescaut und Des Grieux. Auch die am 17. 4. gesehene 2. Vorstellung mit dieser Besetzung ist mit Begeisterung aufgenommen worden, wobei die Bravorufe auch dem Pianisten Michał Białk und dem Dirigenten Markus Lehtinen und wohl auch Frédéric Chopin gegolten haben.

Kiyoka Hashimoto (Manon), Masaju Kimoto (Des Grieux), Olga Esina (Marguerite)Mit Chopin gemeinsam weckt Olga Esina als Edelkurtisane Marguerite Gautier schon bei ihrem ersten Auftritt Sympathie und Mitleid. Kurtisane hin, Liebesdienerin her – diese Frau verdient Hochachtung. Eine zerbrechliche Dame ist zu sehen, die ihre Rolle als stets gut gelaunte, von reichen Männern bezahlte Freundin nur mit Mühe spielt. Innen drin ist sie eine andere. Sie weiß, dass sie krank ist, sie weiß, dass sie nicht ewig auf dieser Welt sein wird, sie spürt, dass der Tod schon auf sie wartet und versucht dennoch, dem Leben den letzten Tropfen abzurpressen. Olga Esina tanzt als Marguerite zugleich mit der Liebe und dem Tod. Chopin auf dem Sterbebett, umgeben vom Priester, seiner Schwester Ludwika Jedrzejewicz, der Pianistin Prinzessin Marcelina Czartoryska und zwei Freunden. Das Gemälde stammt von Anton Teofil Kwiatkowski. © gemeinfreiiDass Neumeier auf Anraten des Freiburger Dirigenten Gerhard Markson Musik von Chopin für seine 1978 in Stuttgart erstmals gezeigte Choreografie gewählt hat, hat wesentlichen Anteil am „Modellfall, der fast zwangsläufig Ausnahme bleiben muß“ (Reclams Ballettführer, 1980). Die Schwindsucht (heute Tuberkulose), an der sowohl der Komponist wie die geachtete Kurtisane Marguerite erkrankt ist, eint die reale Person mit der literarischen Figur. Chopins Musik, lange Zeit als „Salonmusik“ herabgewürdigt, trifft direkt ins Sonnengeflecht, hat Tiefe und Struktur. Nicht nur die beiden Klavierkonzerte, auch viele Sonaten, Balladen und Préludes sind in einer Moll-Tonart geschrieben, damit werden starke Emotionen geweckt.Der Erste Solotänzer Brendan Saye als eleganter Armand. Olga Esina gelingt das so gut, dass es weh tut. Ist sie allein auf der Bühne, zeigt sie die gesamte Gefühlspalette dieser komplizierten Figur. Für jede Bewegung, jeden Schritt und jede Miene nimmt sie sich Zeit, einfühlsam folgt Dirigent Lehtinen Esinas Interpretation.
Der elegante Tänzer Brendan Saye macht als Armand Duval gute Figur, doch wird nicht so recht klar, wie sehr ihn die Verliebtheit und das Begehren und nach ihrem Abschied die Wut und die Eifersucht umtreiben. Auch wenn er sich, wie der Choreograf es möchte, immer wieder auf den Teppich wirft und der Geliebten entgegenrollt. Marguerite fleht den Vater Armands an, sie nicht zu quälen. (Olga Esina, Marcos Menha)An den Hebungen fehlt noch Präzision und Leichtigkeit. Sie sind bei Neumeier kompliziert und gewagt, was durch die fließenden, weiten Röcke der Partnerin noch erschwert wird. Leider kommt da oft nur ein Gewurschtel heraus. Das hat man in Hamburg schon anders gesehen. Der aus Vancouver gebürtige Tänzer Brendan Saye hat seine Karriere 2008 begonnen: Mit 18 Jahre ist er im Corps de ballet des National Ballet of Canada aufgenommen und 2019 zum Principal Dancer ernannt worden. Seit der vergangenen Saison ist er Erster Solotänzer im Wiener Staatsballett. Brendan Saye, Olga Esina: Armand und Marguerite zum letzten Mal im Glück. Kontur zeigt das Paar Manon / Des Grieux, verkörpert von Kiyoka Hashimoto und Masayu Kimoto. Wenn die beiden nicht Balletttänzerinnen auf der Bühne verkörpert, sind sie Fantasiefiguren, Gestalten aus den Fieberträumen Marguerites. Besonders eindrucksvoll sind die Passagen, in denen die realen Personen (Marguerite und Armand) und die geisterhaften (Manon und Des Grieux) miteinander (auch gegeneinander) tanzen.
Sehr locker tanzt die junge Halbsolistin Gaia Fredianelli ihre Rolle Olympia, die sich als Freundin Marguerites nicht geniert, Armand zu umgirren und ihn schließlich zu verführen. Die Italienerin ist eine der wenigen Absolventinnen der Ballettakademie der Wiener Staatsoper, die nach einigen Zusatzausbildungen und zwei Jahren in der Jugendkompanie Mitglied des Staatsballetts geworden ist. Marguerite fantasiert von Manon: Olga Esina, Kiyoka Hashimoto und die Verehrer Manons.
Gefallen hat mir auch Lourenço Ferreira als tollpatschiger und von Marguerite ziemlich mies behandelter Admirateur Graf N. Wie in einem Film rollen die Szenen ab, die die ungeordneten Erinnerungen Armands zeigen. Dazwischen schalten sich die Fantasmen Marguerites, die ihr Schicksal immer wieder mit dem der Manon verbindet. Tatsächlich hat Neumeier den Geniestreich 1986 verfilmt. Acht Jahre nach der Uraufführung hat Marcia Haydée wieder die Titelrolle übernommen, Ivan Liška (damals Erster Solist im von Neumeier geleiteten Hamburg Ballett) hat Armand getanzt.
Olga Esina, Erste Solotänzerin im Wiener Staatsballett, privat. Fotografier für  das Magazin Giornale della danza, giornaledelladanza.comNicht oft genug kann gesagt werden, dass das Orchester der Wiener Staatsoper unter dem erfahrenen Ballettdirigenten Markus Lehtinen und der Pianist Michał Białk wesentlichen Anteil am Gelingen der Aufführungen haben. Białk und Lehtinen sind durch ihre Zusammenarbeit mit dem Hamburg Ballett und auch miteinander vertraut. Schon 2012, unter der Direktion von Manuel Legris, haben Lehtinen und Białk gemeinsam eine Ballettaufführung an der Staatsoper begleitet. Zum Doppelkonzert für 2 Streichorchester, Klavier und Pauken, (1938) von Bohuslav Martinů haben sechs Paare in Nils Christes unvergessliche Choreografie Before Nightfall getanzt. Unter dem Titel Meisterwerke des 20. Jahrhunderts wurden außerdem die Choreografien L’Arlesienne (Roland Petit) und Suite en Blanc (Serge Lifar) gezeigt. Bei der Premiere brillierte Olga Esina in Lifars Choreografie zur Musik von Edouard Lalo mit dem Solo La Cigarette. In diesem plotlosen Ballett geht es vor allem um die Spitzentechnik, in der aktuellen Serie geht es um das Rollenverständnis und den Ausdruck, damit die Geschichte der Kameliendame so richtig unter die Haut fährt.

Ceterum censeo: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass es unsinnig ist, die Vorstellungen des Staatsballetts auf zwei Websites zu verteilen. Das Wiener Staatsballett verdient eine eigene Website.

Die Kameliendame: Ein Ballett von John Neumeier nach dem Roman La dame aux camélias von Alexandre Dumas fils. Musik: Frédéric Chopin.
Choreografie, Inszenierung & Lichtkonzept: John Neumeier
Bühne und Kostüme: Jürgen Rose.
Musikalische Leitung: Markus Lehtinen. Klavier: Michał Białk, Igor Zapravdin (auf der Bühne). Das Orchester der Wiener Staatsoper.
7. Aufführung, 17. April 2024 mit dem Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Fotos: © Ashley Taylor / Wiener Staatsballett