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Tanzen, bis die Dämonen eingeschlafen sind

Parasol–Tänzerinnen scheinen sich in Trance zu tanzen.

Die weißen Berge leuchten im ultravioletten Licht, die Wasserpfützen und der Fluss im Vordergrund glitzern und bald entfaltet sich ein Ritual in der kahlen Mondlandschaft. Die in die Körper der Frauen eingefahrenen Dämonen müssen besänftigt werden. Zāār nennt die aus Teheran gebürtige Wiener Choreografin Ulduz Ahmadzadeh die von fünf Tänzerinnen im Tanzquartier gezeigte Choreografie, die von Geistern, Dämonen und den Ritualen, diese zu besänftigen, erzählt.

Tanz in wechselndem Licht.Ulduz Ahmadzadeh erforscht in einem Langzeitprojekt das kulturelle Erbe und die Rollen und Funktionen des weiblichen Körpers in Tänzen und Riten aus dem Nahen Osten sowohl im historischen (vorislamischen) als auch im zeitgenössischen Kontext. Die Ergebnisse werden zu einem Tanzabend. In Zāār werden die Dämonen und Geister (Zår) beschworen, die in den Kulturen des Nahen Ostens und des Horns von Afrika zu Hause sind. Ihnen ist der Zår-Kult gewidmet, der nicht auf einem Exorzismus, der Austreibung der Dämonen, wie im römisch-katholischen Kult gepflegt wurde und, obwohl verboten, noch gepflegt wird, sondern auf der Besänftigung der Dämonen und Geister beruht. Abendrot, Morgenrot oder ein Feuer auf dem Mond? In jedem Fall ein abwechslungsreiches Lichtdesign. Der belgische Anthropologe und Filmemacher Luc de Heusch (1927–2012) hat dafür den Ausdruck Adorzismus als Gegenbegriff zum Exorzismus geprägt. Die Wortschöpfung hat sich allerdings nicht so richtig durchgesetzt. An das „Austreiben des Teufels“ glauben die Zår-Anhängerinnen nicht, sie können den bösen Geist, der von ihnen Besitz ergriffen hat, aber besänftigen, sich mit ihm versöhnen. Solo für Jennie-love Navoret, die dem Ritual gemäß den Takt angibt. Wie auch im Katholizismus und in anderen patriarchalischen Kulturen sind es vor allem die Frauen, die von Dämonen befallen werden, der Zår duldet keinen Exorzisten, doch er kann von den Betroffenen zum Freund gemacht werden. Dazu dienen die Tanzrituale der Frauen, die oft nächtelang dauern und die Tanzenden in Trance versetzen. Was bei den vorangehenden festlichen Zusammenkünften eingenommen wird, ist nicht berichtet. Die erfolgreiche Choregrafin und Tänzerin Ulduz Ahmadzadeh forscht über alte und aktuelle Rituale. Die fünf Tänzerinnen, die mit Ahmadzadeh drei Monate gearbeitet haben, sind Mitglieder der Tanzgruppe Parasol im Tanzquartier. Seit 2022 erarbeiten jedes Jahr zwei Choreografinnen mit einer von ihnen ausgewählten Gruppe von fünf jungen Performerinnen je drei Monate lang ein Stück für die TQW Halle G. Die Teilnehmerinnen 2024: Helena Araújo, Elda Gallo, Yoh Morishita, Jennie-love Navoret und Viltė Švarplytė. Im Herbst wird Elizabeth Ward mit ihnen arbeiten.
Beeindruckend an der Performance der fünf Tänzerinnen ist ihre unversiegbare Energie. Nahezu 70 Minuten sind sie ununterbrochen in Bewegungen, stampfen im ungeraden Takt mit den nackten Füßen in den Boden, drehen und springen, um die Dämonen in ihnen freundlich zu stimmen. Ein seltener Anblick: Die Ritualtänzerinnen vereinen sich aufeinem Punkt, doch bald setzen ihre Wechselschritte fort.Rituale leben von einer ständigen Wiederholung, sie sind für die Ausübenden da, weniger für Zuseherinnen. Die Monotonie der begleitenden Trommeln, des synchronen Vor und Zurück der Wechselschritte wirkt einschläfernd. Das Licht wechselt, die Landschaft schimmert in allen Farben, es wird Nacht und wieder Tag, der Tanz endet nicht. So ein ritueller Tanz in einer Gruppe funktioniert nicht ohne Leitung, auch Befehle ertönten und Hilfsmittel werden geholt, um die Dämonen mit Klangstäben zu erfreuen oder ihnen Geschenke anzubieten.  Die Tänzerinnen haben Fahnen und Stäbe in den Händen, um die Dämonen freundich zu stimmen.
Die TänzerInnen, in prächtige Kostüme gekleidet, kommen aus unterschiedlichen Kulturen, doch mit der Arbeit an der Choreografie sind sie zu einer einheitlichen, unermüdlich tanzenden Gruppe zusammengewachsen. Eingefügt hat sich auch die zarte Japanerin Yoh Morishita, die erst vor kurzem im studio brut mit ihrer Arbeit Chrysalis zu sehen war, in der sie völlig andere Bewegungsabläufe eingesetzt hat. Fünf unter dem Schirm. Die jungen Tänzerinnen erarbeiten mit zwei Choreografinnen zwei Abende. Wie in Zāār ging es auch in Chrysalis um Verwandlung, um eine Metamorphose, allerdings hat Morishita nicht die Geisterwelt im Sinn, sondern irdische Organismen. Bewegtes, Lebendiges und Unbewegtes, Unbelebtes werden durch gleichzeitig gezeigte unterschiedliche Bewegungen und einige am Körper baumelnde Accessoires vereint. Die Tänzerin wird zu einem Tier und auch zu einem Alien. Begleitet wurde Morishita von der aus Litauen stammenden Komponistin und Sängerin Marija Jociūté. Für Zåår hat das Team Igor Strawinskys Musik zum Ballett „Le Sacre du printemps“ (Deutsch: Die Frühlingsweihe oder das Frühlingsopfer) als Sound-Basis genommen. Der unendliche Tanz der Frauen wird zum Opfer an die Geister.Der Anfang der „Metamorphosen“ Ovids, Handschrift aus dem 15. Jahrhundert. Quelle: Handschriftensammlung der Vatikanischen Bibliothek. © gemeinfreiUlduz Ahmadzadeh zitiert einen Vers aus den Metamorphosen des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. - 17 n. Chr.). Durch den Rhythmus der übersetzten Hexameter klingt das Zitat etwas fremd, doch man versteht, was Ovid (Morishita, Ahmadzadeh) mit „Verwandlungen“ sagen will.

Wechsel und Tausch ist nur in der Form. Entstehen und Werden
Heißt nur anders als sonst anfangen zu sein, und Vergehen
Nicht mehr sein wie zuvor
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Ulduz Ahmadzadeh: Zāār
Künstlerische Co-Leitung, Choreografie: Ulduz Ahmadzadeh,
Künstlerische Co-Leitung, Szenografie: Till Jasper Krappmann
Performance, Co-Kreation:  Helena Araújo, Elda Gallo, Yoh Morishita, Jennie-love Navoret, Viltė Švarplytė
Rekomposition, Sounddesign: turf + surf (Paul Kotal & Han-Gyeol Lie), Lichtdesign: Benjamin Maier, Fotos: © Maximilian Amatarov
Eine Koproduktion von ATASH عطش contemporary dance company und Tanzquartier Wien. 5., 6.4.2024, Tanzquartier.
Yoh Morishita: Chrysalis
Konzept, Performance: Yoh Morishita. Live Sound und Musik: Marija Jociūtė, Lichtdesign: Leo Kuraité, Styling Lisa Knoll. Eine Koproduktion von imagetanz 2024 / h Wien, Yoh Morishita und Im_flieger. studio brut, 11., 12., 13.3.2024.