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Julia und Romeo in Paris

Das Corps de Ballet tanzt am roten Ball.

Es hat funktioniert. Die neue Besetzung von John Neumeiers Ballett Die Kameliendame war hinreißend und überaus erfolgreich. Die junge Solotänzerin Elena Bottaro ist eine bezaubernde neue Marguerite, als ihr Partner zeigt der Erste Solotänzer Davide Dato neue Facetten. Ein Bilderbuchpaar, wenn man die bekannten Bilder aus dem Kopf radiert. Ebenso überraschend ist die Interpretation von Liudmila Konovalova und Alexey Popov als geisterhafte Bühnenfiguren Manon Lescaut und Des Grieux.

Elena Bottaro, Davide Dato: ein Liebespaar aus dem Bilderbuch.Alexandre Dumas fils, Autor der 1848 erschienene Geschichte der Kameliendame, hat sich mit der Lebensgeschichten seiner Figur, Marguerite Gautier genannt, an die Geschichte der literarischen Figur Manon Lescaut gehalten. Diese hat der französische Schriftsteller Antoine-François Prévost d’Exiles (genannt Abbé Prévost) mehr als 100 Jahre vor Dumas in einem Roman erzählt. Die Ähnlichkeiten im Schicksal der beiden Frauen können kurz unter „Aufstieg und Fall“ zusammengefasst werden. Allerdings sind die Perspektiven der Autoren und daher auch die Charaktere der beiden recht unterschiedlich. Dumas fils hat die Rollen vertauscht und ist auf der Seite von Marguerite. Marguerite (Bottaro) betrauert Manon (Konovalova), die nur in ihrem Kopf wirklich existiert. Wie auch der trauernde Des Grieux (Alexey Popov) eine Theaterrolle ist. Manon ist ein flatterhaftes Mädchen, gierig, eigennützig und gefühllos. Der Student Des Grieux, der sie bedingungslos liebt, ist das benutzte Opfer. Marguerite Gautier hingegen ist eine selbstbewusste, elegante, gebildete Frau, die sich nicht ausnützen lässt und auch von der Pariser Gesellschaft geschätzt wird. Dem sittenstrengen Vater ist sie nicht gut genug für seinen Sohn. In ihrem Streben nach einem Luxusleben sinkt Manon immer tiefer, sie kommt ins Gefängnis, wird schließlich nach Amerika deportiert und stirbt in den Armen des treuen Des Grieux. Marguerite zeigt sich großherzig, verzichtet auf ihre Liebe, kehrt in den alten Beruf zurück und stirbt allein und verarmt an der Schwindsucht. Wird zum Opfer des bürgerlichen Dünkels. Der eifersüchtige Armand vertraut ihr nicht, denkt bis zuletzt, dass sie ihn mit einem neuen Liebhaber betrogen hat. Erst nach ihrem Tod erfährt er die Wahrheit.
Marguerite und Armand (Elena Bottaro, Davide Dato). Seine Rolle wirkt etws exaltiert, er muss sich wiederholt auf den Boden werfen.Die oberflächliche Ähnlichkeit der beiden literarischen Figuren findet ihre Fortsetzung in der Lebensgeschichte der beiden Autoren. Sowohl Dumas fils wie auch Abbé Prévost haben ihre Heldinnen im eigenen (Er)Leben gefunden. Der junge Dumas war der berühmten Kurtisane Marie Duplessis (eigentlich Alphonsine Plessis, 1824 –847) verfallen, die Liaison dauerte nur ein Jahr. Liebe auf dem Teppich: Elena Bottaro, Davide Dato (Marguerite und Armand).Prévost hat sein Verhältnis zur Haager Edelkurtisane Lenki Eckhardt verarbeitet. Kennengelernt hatte er die Dame in Holland, wohin er als Mönch und geweihter Priester geflohen war, um nicht im Gefängnis zu landen.
Neumeier verschränkt die beiden Geschichten, indem er Marguerite ins Theater schickt, wo sie das von Dumas fils selbst nach seinem Erfolgsroman gestaltete Theaterstück sieht. Sie fühlt sich zu Manon hingezogen, sieht Parallelen des Schicksals und wird fortan von den Figuren aus dem Theaterstück, vor allem Manon und ihrem Liebhaber Des Grieux verfolgt. Überaus schwierige Rollen, denn Manon und Des Grieux sind nur auf der Bühne real (Darstellerinnen von Rollen), doch wenn sie Marguerite begegnen – einmal treffen alle vier aufeinander: Nur kurzes Glück ist Marguerite und Armand beschieden (Bottaro, Dato).Des Grieux spiegelt Armand, Manon ist die Doppelgängerin von Marguerite –, sind sie Geister, Marguerites Gedanken und Fantasien entsprungen. Konovalova und Popov überzeugen, tanzen, als wären sie tatsächlich aus einem anderen Stoff gemacht.
Neumeier wollte Marguerite einmal so jung auf der Bühne sehen, wie das Vorbild, Marie Duplessis, die mit 23 Jahren gestorben ist, tatsächlich war. Elena Bottaro, seit 2019 Solotänzerin, hat ihre Rolle, sicher nicht nur dank ihres phänomenalen Partners, differenziert gestaltet. Armands Vater igönnt dem Sohn das Glück mit der Kurtisane nicht (Zsolt Törlk, E. Bottaro).Ist sie zu Beginn der Bekanntschaft mit dem eher besitzergreifenden Armand vorsichtig und zurückweisend, so kann man die beiden im 2. Akt (auf dem Lande) mit dem verliebten Veroneser Teenagerpaar verwechseln. Sie tollen umher, necken einander, sind jung, verliebt und entspannt. Nach dem Besuch des Vaters (Zsolt Török, ganz bürgerliche Kontenance, der sich endlich doch zur Hochachtung vor der Frau, der er nicht die Hand reichen will, aufrafft) ändert sich alles. Marguerite wird erwachsen, die Krankheit schreitet fort, sie nimmt noch kurz ihr altes Leben auf, ist aber bald der schnöden Welt abhandengekommen. Geisterhaft, fast durchsichtig, den Blick in die Leere gewendet, erscheint so noch einmal im Theater, um Manon sterben zu sehen.Elena Bottaro, eine neue, junge Marguerite.
Armand ist nur noch wütend, verachtet sie als Verräterin. Davide Dato ist kein zärtlicher Liebhaber, der aus Liebe verzeiht. Er rächt sich mit einer anderen, der leichtlebigen Olympia, die Bottaro bei der Premiere getanzt hat. Der Rollenwechsel ist ihr perfekt gelungen. In dieser aktuellen Besetzung sind auch alle anderen Rollen neu besetzt, wobei Jackson Carroll als geistesabwesender Verehrer Marguerites, Graf N., besonders angenehm aufgefallen ist. Dieser bebrillte Tollpatsch ist ein ewiger Zweiter, der Marguerite trösten darf, aber kaum kommt Armand in ihre Nähe, wird ihm die Tür gewiesen. Auch auf dem Maskenball spielt Carroll nicht den Wurstel, sondern bleibt ein immer bemühter Außenseiter, leider im falschen Kostüm. Als Trauernder erscheint er auch im Prolog, den Neumeier den drei Akten voranstellt: Marguerite ist gestorben, ihre Habseligkeiten werden versteigert, wie es auch bei der realen Marguerite, also Marie Duplessis, geschehen ist.Olympia, Kollegin Marguerites, umgirrt Armand (Gaia Fredianelli).
Der Vater Armands sieht sich das Spektakel an, Armand kommt dazu und die Liebe schießt ihm wieder ein. Er schwelgt in Erinnerungen, seine Erzählungen sind eine Ebene der verschachtelten Choreografie Neumeiers. Davide Dato hat keine Scheu, auch die weniger sympathischen Züge des jungen Mannes imVirtuose Hebungen sind Neumeiers Speialität. Liudmila Konovalova mit Alexey Popov (Manon und Des Grieux). Affektsturm zu zeigen. 
Gelungen sind in dieser 4. Aufführung des Balletts auch die Walzer und Polonaisen, mit denen das Corps brilliert. Der gesamte Abend hat wieder an Glanz gewonnen, ist kurzweilig und fließend. Daran ist auch das Staatsopernorchester unter dem Dirigenten Markus Lehtinen, der schon seit der Saison 2011/12 mit dem Staatsballett vertraut ist, beteiligt. Am Flügel war ein Neuling an der Wiener Staatsoper, Oliver Kern, der eine reiche Konzerttätigkeit aufzuweisen hat. Frédéric Chopin, dessen Musik, mit dem Klavierkonzert Nr. 2 im Zentrum, Neumeiers Ballett begleitet und unterstützt, ist nicht gerade üppig im Repertoire des an Wettbewerbspreisen nicht armen Pianisten vertreten. Doch hat sich der Professor an der Hochschule für Musik und Theater Frankfurt am Main wacker geschlagen. Michal Białk begleitet die Tänzerinnen wieder am 12., 15. und 17. April.

Ceterum censeo: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass es unsinnig ist, die Vorstellungen des Staatsballetts auf zwei Websites zu verteilen. Das Wiener Staatsballett verdient eine eigene Website.

Die Kameliendame, ein Ballett von John Neumeier nach dem Roman La dame aux camélias von Alexandre Dumas fils. 4. Vorstellung am 7.4.2024  (2. Vorstellung mit der genannten Besetzung,  nach dem Debüt der Solistinnen am  6.4.2024).
Musik: Frédéric Chopin. Choreografie, Inszenierung und Lichtkonzept: John Neumeier; Bühne und Kostüme: Jürgen Rose.
Musikalische Leitung: Markus Lehtinen. Klavier: Oliver Kern, Igor Zapravdin (auf der Bühne).
Einstudierung: Kevin Haigen, Janusz Mazon, Ivan Urban. Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Fotos: © Ashley Taylor / Wiener Staatsballett
Kommende Vorstellungen: 17., 22. April; 4. Mai 2024 mit Olga Esina, Brendan Saye, Kiyoka Hashimoto, Masayu Kimoto
Die Premierenbesetzung mit Ketevan Papava und Timoor Afshar wird noch einmal am 1. Mai 2024 zu sehen sein.