Ein Paar wie alle, Szenen jedweder Beziehung
Grandios! Aufregend, umwerfend, sinnlich, verwirrend. Die amerikanische Tänzerin und Choreografin Bobbi Jene Smith zeigt im Festspielhaus St. Pölten mit dem Ballett Basel Marie & Pierre, ein Tanztheaterstück in zwei Akten. Eingebettet in die Musik von Celeste Oram, begleitet von Gesang und Tanz von Alma Toaspern, ist vor allem der erste Teil, Marie, ein fulminantes, immersives Tanzstück.
Ein Raum wie eine Landschaft. Eine erdfarbene, gefaltete, sich wellende Stoffbahn bedeckt die Wände und den Boden des Guckkastens. Ein Gebirge, eine steinige Wüste, ein Wald, später wird in einem Cabaret getanzt, der Stehgeiger feuert die Weiblein und Männlein an, im Swingerclub treffen einander die Paare. Doch der Beginn von Marie ist keusch. Eine Alabaster-Figur, Lucas Cranach d. Ä. könnte sie gemalt haben, im Kampf mit dem unsichtbaren Anderen, der kleine Tisch, der Sessel, eine Doppelgängerin, alles ist feindlich, die schöne Frau (es ist die durch ihre Auftritte in den Choreografien von Chris Haring / Liquid Loft auch in Wien bekannte Tänzerin Breanna O’Mara) bleibt Siegerin, posiert auf dem Tisch, bekommt einen Apfel in die Hand, ist Eva.
Marie, das sind sie alle, die in Schwarz gehüllten Tänzerinnen, die Cellistin, die Sängerin, der Geiger … Halt! Die Männer sind wohl Pierre oder Adam, Max und Moritz oder auch Antoine, dann heißt sie Collette und beide sind Figuren der 1950er Jahre in einem Film von François Truffaut (1932–1984), der auf Deutsch den holprigen Titel Sie küßten und sie schlugen ihn trägt. Auch Bobbi Jene Smith zeigt einen Film. Wir setzen die Virtual-Reality-Brille auf und sind selbst mitten drin. Die Pierres balgen sich wie Schulbuben, kämpfen wie Teenager, steigen den Frauen nach, alterslos. Ein Märchen außerhalb jeglicher Zeit. Richard Wagner, der Textdichter, kommt mir in den Sinn: Parsifal wundert sich: „Ich schreite kaum, doch wähn' ich mich schon weit.“ „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“ Es gibt nichts zu erklären, man wirft sich hinein in diesen Kosmos, wickelt sich in die Musik, lässt sich hinwegtragen in fremde Sphären, die nur allzu bekannt sind, träumt von der Liebe und erkennt zu spät, dass ein Albtraum quält. Bobbi Jene Smith entwirft mit dem Basler Ensemble Szenen, zeigt Szenen, lässt Zeit und Raum vergessen, entführt das Publikum in fremde Sphären, erzeugt Liebesträume, die zu Albträumen werden. Bilder im Kopf, von Breughel und Hieronymus Bosch winken; die Geige seufzt und wimmert, Blumen werden abgelegt, nach der Orgie wird begraben, doch das Leben ruft und die Frauen einen sich zum stampfenden Tanz, dann stürzt die Welt ein, die Berge fallen, der Boden öffnet sich, der Spuk ist vorbei. Die ungelösten Rätsel, die nicht beantworteten Fragen bohren sich in die Ganglien, so schön, so emotionsgeladen, so wild und sinnlich war der Traum, dass das Aufwachen schwerfällt.
Was nicht unerwähnt bleiben darf: Dieser phänomenale Abend ist das Werk von Frauen. Eingeladen worden ist die Choreografin von der neuen Direktorin des Ballett Basel, Adolphe Binder. Bobbi Jene Smith suchte sich die Komponistin Celeste Oram aus, die parallel zum Entstehungsprozess der Choreografie die passende Musik geschaffen hat. Ein Teil davon erklingt live auf der Bühne – Cellistin, Geiger und die klavierspielende, tanzende Sängerin agieren inmitten der Tänzerinnen –, der andere, Filmmusik der wohligen Art, wird als Aufnahme des Sinfonieorchesters Basel eingespielt, geleitet von der 34-jährigen in Shanghai gebürtigen Dirigentin Tianyi Lu. Aufgewachsen ist sie in Neuseeland, zurzeit lebt sie in Den Haag und arbeitet in halb Europa.
Aus ist es mit der Träumerei, es müssen noch Fakten festgehalten werden. Etwa die Kurzbiografie der Sängerin Alma Toaspern, die Marie mit ihrer klaren Liedstimme begleitet, während Pierre von französischen Chansons im Stil von Barbara begleitet wird. Die Mittdreißigerin stammt aus Bitterfeld nahe Leipzig und arbeitet als freie Tänzern, Choreografin und Sängerin in Europa. Mit Bobbi Jene Smith hat sie bereits 2021 ihre Rolle in Pierre erarbeitet. Der 2. Akt von Marie & Pierre, Pierre, ist im Königlich dänischen Theater in Kopenhagen uraufgeführt worden. Im Programmheft sind als Choreografinnen Bobbi Jene Smith, Or Schraiber, Tom Weinberger und die Company angeführt. Für die Uraufführung der beiden Akte Marie & Pierre im November 2023 in Basel ist die Choreografie von Pierre überarbeitet worden, hat aber nicht die Intensität von Marie erreicht. Tanztheater in der Nachfolge von Pina Bausch. In einem kahlen Raum ein eindeutig identifizierbares (Ehe-)Paar – Breanna O’Mara, diesmal ganz in Grün als (Ehe-)Frau –, das sich anfangs nichts zu sagen hat, später heftig streitet und sich am Ende trennt. Er geht, sie bleibt. Was mir das riesige Löwen-Denkmal (Herr und Frau Löwe, die Tatzen auf der Beute), das unvermittelt hereingeschoben und bald wieder abtransportiert wird, sagen soll, habe ich nicht verstanden. Sonst ist alles klar und deshalb nicht wirklich aufregend, auch wenn sich diesmal 20 bunt gekleidete Mitwirkende im nackten Raum tummeln und es auch für Pierre ein Tanzfest gibt. Gezügelter als mit Marie natürlich. Einzig Alma Toaspern, die sich als Chansonnière zeitweise auf dem Klavier räkelt, bleibt im Gedächtnis.
Bobbi Jene Smith ist 1983 in Centerville, Iowa geboren und mit 21 Jahren nach Israel gegangen, um sich der Batsheva Dance Company anzuschließen. Zwölf Jahre lange tanzte sie unter dem künstlerischen Leiter Ohad Naharin. Danach hat sie sich der Choreografie zugewandt und für unterschiedliche Compagnien, auch für die der Pariser Oper, Werke geschaffen. Am 17. Februar war Gelegenheit, ihre Kreativität und auch ihren Mut mit dem Ballett Basel, einer zeitgenössischen Kompanie, zu sehen. Nicht in Wien, sondern im Festspielhaus St. Pölten.
Bobbi Jene Smith / Ballett Basel: Marie & Pierre
Konzept, Regie und Choreografie: Bobbi Jene Smith
Auftragskomposition Celeste Oram; Musikeinspielung: Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Tianyi Lu
Bühnenbild: Christian Friedländer; Kostüme Bobbi Jene Smith, Christian Friedländer; Lichtdesign: Roland Edrich; Choreografische Assistenz: Jonathan Fredrickson, Or Schraiber
Live-Musik Marie: Valentina Dubrovina Cello; Keir GoGwilt Violine, Piano; Alma Toaspern Gesang.
Pierre: Keir GoGwilt Violine, Piano, Alma Toaspern Piano, Gesang.
Fotos: © Jubal Battisti
Premiere 18. November 2023, Theater BaselTheater Basel. Aufführung als Koproduktion im Festspielhaus St. Pölten, 17. Februar 2024.