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Der Junker von der Mancha ist zum Kasperl mutiert

Olga Esina inmitten des Ensembles als Dryaden-Königin.

Einen „sinnreichen Junker“ nannte der spanische Dichter Miguel de Cervantes Saavedra die Hauptfigur in seinem Anfang des 17. Jahrhunderts erschienenen Roman. Auch 400 Jahre später kennt ihn, Don Quixote oder Don Quijote, auch Don Quichotte, noch jedes Kind, nicht nur im Geburtsland. In der Wiener Staatsoper wird seit 1966 mit Unterbrechungen das gleichnamige Ballett von Rudolf Nurejew nach Marius Petipa und Alexander Gorski getanzt. Don Quixote ist eine Ballett-Komödie, doch …

… bei der Wiederaufnahme zum Saisonabschluss ist das dreiaktige von Nurejew 1966 für Wien geschaffene Ballett zum Wiesenfest verkommen. Den Einmal-Besuchern, Sommergästen, die im Wien-Programm „Staatsoper“ stehen haben, ist das nur recht. Sie spenden reichlich Applaus, auch Dirigent Robert Reimer, mehr mit der Oper vertraut und in den nur mit der Lupe entzifferbarer Anmerkung als Debütant für das aktuelle Dirigat ausgewiesen, wird mit Paschen und Quietschtönen belohnt.
Davide Dato als Basil, diesmal etwas verhalten. Sein Debüt in dieser Rolle bescherte ihm das Avancement zum Ersten Solotänzer.Doch eine Komödie heißt nicht, dass kräftig und recht grob auf die Scherz- und Spaßtube gedrückt werden muss, bis das Publikum sich vor Lachen kugelt. „Komödie“ bedeutet nur, dass der Ausgang gut ist, konkret das Liebespaar Basil (Davide Dato) und Kitri (Liudmila Konovalova) einander endlich heiraten dürfen. Den Hochzeitstanz haben sichtbar viele der bestens unterhaltenen Gäste nicht mehr erlebt. Müdigkeit nach zwei Akten? Irrtum? Mangelnde Ballettbegeisterung? Die Gründe für die Lücken in den Reihen bleiben unbekannt.
 Nicht nur im Tohuwabohu des 1. Aktes kommt mir manches spanisch vor, auch wenn gar nichts spanisch ist, obwohl der Schauplatz Barcelona ist und auch Matadore auftreten, um mit den Fischerburschen zu raufen. Nurejew ist in seiner Kreation gerne selbst aufgetreten, hat den Basil in Kniehosen ohne Strümpfe getanzt. Jetzt hat Dato weiße Strümpfe an. Komisch. Dass das turbulente Gewurl in aufwändigen Kostümen und üppigemKetevan Papava in perfekter Haltung als Straßentänzerin. Daneben Brendan Saye (Rollendebüt als Escamillo) Bühnenbild vom eigentlichen Sinn eines Balletts, dem Tanz, ablenkt, möglicherweise auch Ballerinen und Ballerinos bremst, ist in Kauf zu nehmen. Wichtig ist ja neuerdings nicht mehr die Qualität einer Vorstellung, sondern, dass das zahlende und geladene Publikum zufrieden ist. Nach mehr als 50 Jahren würde es Nurejews Choreografie, die höchste Anforderungen an die Tänzer:innen stellt, gut anstehen, wenn das angestaubt wirkende Bühnenbild und die bunten Kostüme erneuert würden. Der Ausstatter Nicholas Georgiadis (1923–2001) wäre sicher nicht böse. 
Don Quixote hält die Windmühle für einen Feind, die Umstehenden amüsieren sich. (2. Akt)Eine kurze Erholungspause vom verkrampften Klamauk bietet die Traumsequenz im 2. Akt. Don Quixote träumt sich in einen Zaubergarten, in dem Dryaden tanzen und auch ein niedlicher Amor den Schlafenden entzückt. Olga Esina schwebt als Königin der Baumnymphen schwerelos durch den Zauberwald, Ioanna Avraam hat ihr Debüt als Amor und verleiht ihrer Rolle den verschmitzten Charme, der Kitri fehlt. Ob die Erste Solotänzerin den Amor zum ersten Mal tanzt, lässt sich nicht herausfinden, dass alle im Corps de ballet Tanzenden, die nach dem Juli 2013 an das Wiener Staatsballett engagiert worden sind, in ihrer Rolle an der Staatsoper debütiert haben, ist klar. Was sich liebt, das neckt sich, die Freundinnen spielen mit. (Elena Bottaro, Aleksandra Liashenko, Davide Dato und Liudmila Konovalova)Der letzte Auftritt von Don Quixote und all den Spanierinnen und Spaniern war am 5. Juni 2016. 2013 war der Ritter aus der Manche im Pariser Théatre du Chatelet im Rahme eines 12-tägigen Gastspiels der Compagnie unter Manuel Legris zu Gast. Nurejews Don Quixote hat inklusive der 12 Tage in Paris 106 Aufführungen erlebt. Grund genug für einen Galaabend zu Saisonschluss. Zu einem festlichen Abend gehören auch Gäste, nicht nur im Publikum, auch auf der Bühne. Die wiederaufgenommene Produktion bleibt aktuell, ab Mitte September steht Don Quixote zehnmal auf dem Spielplan. Don Quixote träumt von Waldgeistern und der angebeteten Dulcinea. (Liudmila Konovalova)Da hätte es der 1. Vorstellung gut angestanden, wenn wenigstens das Liebespaar von Gästen getanzt worden wäre. Gasttänzerinnen und -tänzer erfreuen nicht nur das Publikum, sondern geben der gesamten Compagnie Ansporn und neue Energie. Die Fans und Aficionadas machen sie sicher: Unsere Tänzer:innen sind die besten. Oder?
Ceterum censeo. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das Wiener Staatsballett eine eigene Website bekommen sollte.

Don Quixote, Ballett in einem Prolog und drei Akten
Musik: Ludwig Minkus in einer Bearbeitung von John Lanchbery;
 Choreografie, Inszenierung: Rudolf Nurejew; Bühne und Kostüme: Nicholas Georgiadis; Einstudierung: Florence Clerc, Lukas Gaudernak, Jean Christophe Lesage. 
Applaus für Davide Dato und Liudmila Konovalova.In den Solorollen: Zsolt Török (Don Quixote), François-Eloi Lavignac (Sancho Pansa), Liudmila Konovalova (Kitri), Davide Dato (Basil), Jackson Carroll (Gamache), Ketevan Papava (Straßentänzerin), Olga Esina (Königin der Dryaden), Ioanna Avraam (Amor).
Musikalische Leitung des Orchesters der Wiener Staatsoper: Robert Reimer.
Wiener Staatsballett in der Staatsoper. Wiederaufnahme am 28. Juni 2023.
Nächste Vorstellung mit dieser Besetzung: 14.9. 2023.
Fotos: © Ashley Taylor. Wiener Staatsballett  / Ashley Taylor.