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In Wien darf getanzt werden, in Teheran nicht

Tanzen und Springen im Gleichklang: "Tarab"

Ulduz Ahmadzadeh: „Tarab“ im Tanzquartier. Endlich wird einmal!  Im Tanzquartier wird getanzt, richtig getanzt. Worte braucht es keine. Der Körper erzählt, tanzt und springt zu aufwühlenden Rhythmen und in der Stille. Großartig! Ulduz Ahmadzadeh, geboren im Iran, in Wien lebend und arbeitend, erforscht mit sieben Tänzer:innen ihrer Gruppe ATASH عطش contemporary dance company alt Tänze aus vorislamischer Zeit und begeistert samt dem Perkussionisten, Mohammad Reza Mortazavi, das Publikum in der gefüllten Halle G / Tanzquartier.

Tanzen und Springen im Gleichklang: "Tarab"Ulduz Ahmadzadeh ist nicht nur Tänzerin und Choreografin, sie ist auch Tanzforscherin und beschäftigte sich in einer Trilogie mit den Tänzen und Ritualen, die in vorislamischer Zeit bekannt waren und zeigt auch die späteren Veränderungen durch den Islam und den Kolonialismus. So genau muss das aber niemand wissen, wenn die Tänzer:innen (fünf Frauen, zwei Männer) im Kreis stehen und die Köpfe schütteln, bis sie einen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben. Langsam löst sich der Kreis auf, die Köpfe und Schultern werden weiter geschüttelt, ein religiöses Ritual. Die teils sakralen orientalischen Kostüme werden immer wieder gewechselt. Die weihevolle Stimmung steigert sich, wenn eine Tänzerin auf das die Zuschauerreihen spaltende Podest steigt und ein hölzernes Fries mit einem gefransten Vorhang feierlich auf die Bühne trägt. Während sie einen Moment in der Mitte der Tanzenden stehen bleibt und die Dekoration hochhält, könnte sie auch als ein Lettner, wie er einst in katholischen Kirchen üblich war, verstanden werden. Danach bleibt diese dekorative Schranke im Hintergrund der Arenabühne stehen. Im Lauf der Zeit haben  die  Männer die Herrschaft über den Tanz übernommen, die Frauen sind an den Rand der Bühne gedrängt worden. Die Stimmung wechselt, Mohammad Reza Mortazavi, Komponist und Virtuose auf den Handtrommeln Tombak und Daf, gibt jetzt den Rhythmus vor, die Stimmung ändert sich. Schwingende weiche Bewegungen passen nicht mehr in die Sakristei, gehören eher in den Tanzpalast. Die flinken Finger von Mortazavi und ihre repetitiven Bewegungen versetzen die Tänzer:innen fast in Trance. Das ist es, was Tarab bedeutet, das Aufgehen in der Musik, das Einswerden mit ihr. Auch dem Publikum kann das gelingen. Dann fällt der graue Alltag ab, die Welt wird bunt, Verkrampfungen lockern sich, die Flügel wachsen. Tarab! In Teheran und dem gesamten Iran verboten. Fransen spielen eine Rolle in der Kostümierung und auch als Schleier. Wer tanzt, kann verhaftet werden. Dadurch aber wird der Tanz zum Ausdruck des Widerstands und der Tanz, das Tanzen lässt sich nicht ausrotten. Das ist auch den christlichen Machthabern im Mittelalter nicht gelungen, die fast das gesamte Jahr mit einem Tanz- und Lustbarkeitsverbot belegt haben. Reste davon sind etwa in Deutschland noch immer lebendig, etwa das Tanzverbot am Krafreitag in vielen Bundesländern. Nur kurz vor den Heiligen Zeiten (Advent und Osterzeit) durften sich die Menschen des Lebens freuen oder ihre Wut im Tanzen und Springen auslassen. Tanz hat immer eine politische Dimension.Auch wenn sich die Tanzenden auf der großen Bühnen verteilen, sie bleiben immer ein Tanzkörper.
Das zeigt auch Ahmadzadeh in den gesammelten alten Tänzen, die sich nach jedem Rhythmuswechsel immer deutlicher dem heutigen freien Tanz nähern. Knapp vor dem Finale fühlt man sich schon wie in einem Club. Die Frauen haben ihre führende Rolle im rituellen oder profanen Tanz verloren. Religion und Kolonialismus haben sie quasi degradiert, sie wirbeln nicht mehr, den Männern gleichgestellt, wie die besessenen Derwische durch die Luft, sondern schwingen lasziv ihre Hüften, um die Männer anzustacheln.
Auch wenn man sich in die Geschichte des Tanzes im arabischen Raum mit Tanzverbot und Tanzlust nicht weiter vertiefen mag, ist dieser Tarab-Abend pures Vergnügen, Vergnügen an Perfektion und Präzision, an richtigem Timing und Tanzlust. Das Licht wird golden, das Finale bahnt sich an.
Wie genau und intelligent Ulduz Ahmadzadeh arbeitet, zeigt sich auch im feinen Schlusstanz. Der Musiker lässt seine Hände ruhen, die Tänzer:innen bewegen sich nur noch minimal, goldener Regen fällt vom Himmel, das Licht schwindet, samtiges Dunkel hüllt Tänzer:innen und Zuschauer:innen ein, den Rhythmus noch im Körper gibt man sich der Stille hin. Ein perfekter Schluss eines perfekten Ballettabends.Einst tanzten auch die Frauen, dass die Fetzen flogen, wild wie ein Derwisch in Trance.
In jeder Bewegungssequenz zeigt sich Präzision, wird Synchronizität verlangt, ist sie zu sehen, auch wenn die auseinanderdriftenden Tanzenden einander nicht anschauen. Die stets wechselnde Stimmung drückt sich auch im Mienenspiel aus und lässt keinerlei Langeweile aufkommen. Und über den Einsatz der Musik, die hinreißende Virtuosität von Reza Mortazavi auf seinen Instrumenten, möchte ich singen, so großartig ist er und auch sein Zusammenspiel mit den Tanzenden.
Fazit: in Wien darf getanzt werden und es wird getanzt, dort wo getanzt werden soll, im Tanzquartier.

Ulduz Ahmadzadeh / ATASH عطش contemporary dance company: "Tarab"
Konzept, Choreografie: Ulduz Ahmadzadeh; Konzept, Szenografie: Till Krappmann; Lichtdesign: Jan Wielander. Komposition, Live-Musik: Mohammad Reze Mortazavi.
Tanz, Choeografie: Desi Bonato, Naline Ferraz, Flora Virag, Luca Major; Ofer Dayani, Axel Hampusson, Jassi Murad. 13. und 14. Oktober 2022, Tanzquartier.
Fotos: © Maximilian Pramatarov, Claude Hofer