Aurora fällt aus allen rosa Wolken
Es war einmal. So beginnt die Geschichte von der schlafenden Schönen, dem Dornröschen, die vor langer Zeit erzählt worden ist. Doch Aurora lebt heute und ist ein Teenager wie viele andere. Der Choreograf Andrey Kaydanovskiy erzählt mit dem Ensemble von TanzLinz ein altes Märchen als aktuelle Geschichte. Die Musik zum Ballett stammt wie zum 1890 uraufgeführten Ballett von Marius Petipa von Peter I. Tschaikowsky, mit einer dezenten Ergänzung durch elektronischen Klänge. Nach der Uraufführung des neuen Balletts am 23. Dezember ist nicht nur die höchst lebendige Aurora bejubelt worden. Auch das gesamte Ensemble, der Choreograf und das Bruckner Orchester unter Marc Reibel durften sich glücklich für den freudigen Applaus bedanken.
Aurora ist keine Prinzessin, denn echte Prinzessinnen gibt es ja schon lange nicht mehr, manche Frauen in fernen Ländern nennen sich halt so. Aurora ist die lang ersehnte Tochter einer wohlhabenden Familie. Weil die Eltern hinter den Glaswänden in ihrem Penthouse so lange auf die Tochter gewartet haben, wird die Ankunft des Säuglings groß gefeiert. Tanten und Onkel werden eingeladen, sie wünschen dem Kind, was Feen angeblich schenken konnten: Schönheit und Klugheit, Reichtum und Kraft, die wird sie vor allem brauchen können, auch wenn sie in einer rosa Wolke heranwächst, ferngehalten vom grauen Alltag. Das rauschende Fest findet ohne die etwas sonderbare Tante Carabosse statt. Sie legt ohnehin wenig Wert auf rauschende Feste und wurde auch deshalb gar nicht eingeladen. Aber sie macht sich schon jetzt Sorgen um die kleine Aurora. Wie soll sie sich später zurechtfinden, wenn man sie von der nicht gerade rosigen Welt abkapselt?
Die Jahre vergehen, und auch, wenn der Papa es nicht wahrhaben will, Aurora wächst zur Teenagerin heran und feiert ihren 16. Geburtstag mit einer Riesenparty. Die Eltern, cool wie Eltern heutzutage sind, hüpfen auch ausgelassen herum. Tante Carabosse schaut kurz vorbei und hinterlässt ihr Geschenk für Aurora, ein paar exquisiger hochhackiger Schuhe, noch passt Aurora nicht ganz hinein in dieses erotische Accessoire, sie versucht zu gehen, was deutlich misslingt. Mit falschen Schuhen stolpert man, doch man fällt nicht in Schlaf, wie ja überhaupt diese im Märchen (Urfassung von Charles Perrault, 1628–1703) erwähnten 100 Jahre als Metapher für den Rückzug Heranwachsender in der Pubertät stehen. Aurora findet die Party mit den ausgelassenen Freunden ziemlich öde, sie kippt quasi aus dem Kinderzimmer in die reale Welt außerhalb ihres rosa Käfigs.
Draußen ist es ziemlich unheimlich, Aurora sieht Tiergestalten, hört seltsame Geräusche und fühlt sich gar nicht wohl. Doch da kommt ihr Tante Carabosse zu Hilfe, sie hilft ihr behutsam, erwachsen zu werden und auch mit dem anderen Geschlecht in Kontakt zu kommen. Sie ist hübsch und bald wird sie von jungen Männern umschwärmt, doch rüde weist sie die vier „Prinzen“ ab. Dann kommt einer, der sich nicht abweisen lässt, doch Aurora lässt sich nicht durch einen Kuss erwecken. Désiré muss ihr schon beweisen, dass er es ernst meint. Doch so leicht fällt sie ihm nicht anheim, sie will selbst wählen, ihr Leben selbst bestimmen, wie Carabosse es sie gelehrt hat. Von Heirat will Aurora nichts wissen. Doch die gesellschaftlichen Zwänge, die Wünsche der Eltern sind zu stark, das schöne Leben mit der rosaroten Brille zu verlockend. Aurora gibt nach. Was mit einem Tauffest begonnen hat endet mit dem Hochzeitsfest. Das Märchen will es so und der rege Verkehr im Trauungssaal des Neuen Rathauses in Linz gibt ihm Recht.
Andrey Kaydanovskiy hat eine Meisterleistung vollbracht, besteht doch das Ensemble in Linz aus nur 16 Tänzer:innen. Dennoch ist es gelungen, mit dem engagierten und bestens trainierten Ensemble ein opulentes Ballett zu zeigen. Die zauberhaften, fantasievollen Kostüme von Melanie Jane Frost und die Bühne von Karoline Hogl (seit gut zehn Jahren arbeiten beide Künstlerinnen mit Kaydanovskiy zusammen) helfen ebenso mit wie das Sounddesign des Filmkomponisten Angel Vassilev. Er hat mit Kaydanovskiy, der betont hat, sich an das Märchen, aber nicht an das Ballett zu halten, Tschaikowskys Komposition eingedampft und sich vor allem auf die für die Handlung markanten und auch bekannten Stellen konzentriert. Vassilev geht behutsam vor, aus dem Orchestergraben klingen mitunter elektronisch verfremdete Klänge und vor allem in der Natur, wenn Aurora von Gefühlen überschwemmt wird, fließt Musik aus dem Computer ein. Doch niemals versuchen fremde Klänge, Tschaikowskys Melodien auszulöschen. Sowie der russische Komponist eng mit dem Choreografen zusammengearbeitet hat, achtet auch Vassilev, dass sein Sound-Design mit der Handlung konformgeht, diese auch vorantreibt. Elemente, die nichts mit der Handlung zu tun haben, sind weder im Tanz auf der Bühne noch in der Musik vorhanden. Kaydanovskiy, der internationale Erfahrung hat, weiß genau, dass sich weder alle Ballettensembles gleichen noch das Publikum in den Opernhäusern. Wien ist nicht München und Linz nicht Hamburg. Das Ego den Tänzer:innen und dem Publikum aufzuzwingen, ist ihm nicht gelegen. Er tut dem Märchen keine Gewalt an, erzählt jedoch eine glaubwürdige, nachvollziehbare Geschichte von heute. Er muss nichts dazu erfinden, um zu beweisen, dass er kreativ ist, konzentriert sich lieber auf die Interaktion zwischen den Figuren, Mutter / Vater, Carabosse / Aurora, Aurora / Désiré. So ist ein harmonischer Abend entstanden, ohne Kinkerlitzchen und Firlefanz, mit sinnhaften Bewegungen, gewagten Hebungen und elektrisierenden Pas de deux.
Was mir besonders gefallen hat, ist die Präsenz der Tanten, die den Feen entsprechen. Nicht nur in den Kostümen, auch im Tanz ist sofort erkennbar: Rutsuki Povraznik ist die Schönheit, Katharina Illnar mit Brille die Klugheit, die blonde Nicole Stroh entfacht einen Goldregen, sie wünscht dem Baby Reichtum, und schließlich Elena Sofia Bisci, die die nötige Kraft verleiht. Damit ich nicht der Diskriminierung verdächtigt werde, seien auch die Begleiter der Tanten genannt: Matteo Cogliandro, Pavel Povraznik, Pedro Tayette, Lorenzo Ruta. Und Catalabutte, der Babysitter, wird mit Energie und Witz von Arthur Samuel Sicilia getanzt. Mutter / Vater (früher Königin / König): Angelica Mattiazzi / Ilia Dergousoff. Der schließlich von der Familie vereinnahmte „Prinz“ Désiré war bei der Premiere Mischa Hall. Ich erinnere, 16 Tänzer:innen, da muss es bei den Folgeaufführungen eine Rotation geben. Vermutlich kann jede(r) jede Rolle tanzen. So wird auch der ausdrucksstarke Tänzer Yu-Teng Huang als Carabosse in einer späteren Vorstellung zum Vater werden, Arthur Samuel Sicilia wird dann Carabosse sein. Huang stammt aus Taiwan und ist seit der Spielzeit 2015/16 Mitglied im Ensemble. Ein quirliges Mädchen, eine überzeugend gelangweilte Teenagerin und eine wahre Kämpferin, wenn die „Prinzen“ sie belagern, ist Elisa Lodolini als Aurora. Sie stammt aus Italien, hat eine internationale Ausbildung genossen und ist seit dieser Saison Ensemblemitglied. Elena Sofia Bisci, auch eine Italienerin, wird als Tante Kraft Fleur Wijsman Platz machen und zu Aurora werden. Im Grunde ist es egal, wie rasant sich das Rollenkarussell dreht, das Ensemble hat ein einheitliches Niveau und alle Rollen sind wichtig und durchdacht in Bewegung gesetzt. Es geht an diesem Abend ums Erwachsenwerden, also gilt die Empfehlung nicht für kleine Kinder, doch Teens werden ihre Freude daran haben.
„Dornröschen“, Tanzstück von Andrey Kaydanovskiy.
Musik von Peter I. Tschaikowsky und Sounddesign von Angel Vassilev.
Musikalische Leitung; Marc Reibel. Choreografie und Inszenierung: Andrey Kaydanovskiy. Bühne: Karoline Hogl; Kostüme: Melanie Jane Frost; Licht: Christian Kass; Dramaturgie: Roma Janus.
Das gesamte Ensemble TanzLinz. Bruckner Orchester.
Premiere: 23. Dezember 2022. Nächste Vorstellungen bis Saisonende, die nächsten finden am 5., 14. und 18. Jänner 2023 statt, die letzte am 13. Juni 2023.
Fotos: © Ashley Taylor, Philip Brunnader