Faso Danse Théâtre: „Wakatt“ in Sankt Pölten
Wakatt – Hier und jetzt“! Wakatt ist ein Begriff aus der burkinischen Nationalsprache, Mòoré, und bedeutet „unsere Zeit“. Davon erzählt der Choreograf und Gründer des Faso Danse Théâtre von Bobo-Dioulasso, Serge Aimé Coulibaly. Mit seiner 2002 gegründeten Compagnie, dem Faso Danse Théâtre, zeigt er seine Choreografien vor allem in Europa. Zuletzt haben Serge Aimé Coulibaly und seine dynamische Compagnie mit dem beeindruckenden Tanztheater „Wakatt“ das Publikum im Festspielhaus Sankt Pölten begeistert.
Was den Choreografen interessiert, ist die Realität des Alltags mitsamt den sozialen Veränderungen. Schon bevor die Covid-19-Pandemie die Menschen auf dem gesamten Planeten erfasst hat, ist Coulibaly aufgefallen, dass die Menschen, nicht nur in seiner Heimat, sondern überall, von Angst, Wut und Frust beherrscht werden. Welch seltsame Folgen für das soziale Gefüge und die individuellen Beziehung hat, zeigen die Tänzer:innen mit „Wakatt“, einem wilden, aufregenden, auch beklemmenden, Werk, in dem das Auditorium mit vollem Körpereinsatz und imponierender Präsenz in Banne geschlagen wird.
Mit auf der Bühne ein außerordentliches Trio, das Magic Malik Orchestra mit Magic Malik, Maxime Zampieri und Jean-Luc Lehr. Die Musiker sind nicht als begleitendes oder illustrierendes Accessoire beteiligt, sondern als wesentlicher Teil der Choreografie und des aufwühlenden Geschehens. Der Tanz ist ebenso emotional wie die Musik, nicht Figuren (Rollen) oder eine Geschichte erzählende Menschen sind auf der Bühne, sondern Gefühle, überwiegend negative, Angst und Wut, Aggression und Kontrollverlust, selten treten friedliche, sanfte Emotionen zutage. Die Welt liegt im Argen.
Coulibaly ist Afrikaner, doch seine Truppe ist bunt gemischt. Tänzer:innen aus Afrika, Frankreich, Italien oder Belgien arbeiten miteinander. So ist auch nicht purer afrikanischer Tanz zu erwarten, schließlich lebt Coulibaly auch teilweise in Brüssel und hat früher im Ensemble von Alain Platel getanzt. Von einer strukturierten konzisen Tanzsprache kann auch keine Rede sein, die Tänzer:innen schonen sich nicht, sie laufen und springen, kreischen, johlen, drehen sich um sich selbst, schnellen im Salto auf, geraten aus der Fassung, gehen aufeinander los oder ziehen sich dann ganz in sich selbst zurück. In einem nahezu wahnsinnigen Crescendo steigert sich die Aufführung bis zum offenen Schluss. Coulibaly bietet keine Lösungen an, zeigt nicht, wie es wieder besser werden könnte, sondern nur, wie es ist. Als Choreograf ist er ein Forscher, ein Erforscher des Istzustands der Menschheit.
Der Beginn ist friedlich und verleitet zum Meditieren – die zehn Tänzer:innen kommen einzeln auf die Bühne, vor einer riesigen halben Sonnenscheibe gehen sie in Position. Mit dem Rücken zum Publikum. Der Bühnenboden ist mit Asche oder dunkler Erde bedeckt, die bald als Waffe eingesetzt werden, wenn das Gegenüber (Feind oder Freund?) damit beworfen und beschmiert werden. Rechts ist ein riesiger goldfarbener Felsblock aufgebaut, der als Versteck und Fluchtpunkt und schließlich als Thron einer schwarzen Göttin dient. Ob diese gut oder böse ist, erklärt sich nicht.
In winzigen Bewegungen drehen sich Schattenrisse um sich selbst, bis die Sonne untergegangen ist und das Publikum den bunt gekleideten Leuten ins Gesicht schaut, schauen muss. Nach diesen Minuten der Stille bricht der Sturm los. Zuerst ist es nur ein Tänzer, der die Nerven verliert, um sich schlägt, brüllt und die Menge angreift, später werden es immer mehr, von einem friedlichen Zusammenleben weiß Coulibaly nichts (mehr). Die Alltagskleidung verschwindet allmählich, durch neue Kostüme differenzierte Figuren treten auf, Schamanen und Verstörte, Terroristen. Götter und eine Göttin im schwarzen Mantel, der den gesamten meterhohen Goldfelsen umhüllt. Wenn sie von ihrem Thron herabsteigt, sich unters Volk mischt, bleibt der Mantel oben, der Felsen hat die goldene Fassade verloren
Wie die Musiker unterbrechen auch die Tänzer das bedrohliche Tohuwabohu durch ruhige Phasen, gekennzeichnet durch Stille und weiche Bewegungen. Doch das dauert nicht lange, schon beginnt das Schlagzeug zu hämmern und klappern, die Flöte wimmert und zu pfeift, und wenn sie schweigt, singt Malik Mezzadri (das ist sein amtlicher Name) klagende und aufwühlende Melodien, der Bass ruft zum Widerstand, und die Tänzer:innen scheinen, nicht mehr zu wissen, wo und wer sie sind, sind Krieger und Opfer, gebeutelt von Unsicherheit und Verzweiflung, zitternd vor Furcht und Wut. Sie sind Getriebene, psychotisch und ohne Ausweg. Und dann, in der Pause, werden Verletzte vorsichtig getragen, gibt es Andeutungen von Zärtlichkeit und Liebe.
Nach 50 Minuten, fühle ich mich in einer Schleife gefangen, es wird diesen ersehnten Ausweg nicht geben, es geht immer weiter (real: noch 25 Minuten), Aufruhr und Ruhe, Finsternis und helles Licht, Hölle und kein Himmel. Coulibaly gibt keine Struktur vor, alles passiert live, mit unaufhörlichem Körpereinsatz strömen die Emotionen über den Bühnenrand. Die Gruppe fällt immer wieder auseinander, jede, jeder wird von den eigenen Gefühlen bewegt, dann bewegen sich Tänzerinnen und Tänzer, akrobatisch und voll Energie, wieder gemeinsam, sind ein kollektiv im Rausch. Weil es doch nicht die Realität, sondern nur ein vom Choreografen und den Tänzer:innen geformtes Abbild ist, muss es ein Ende geben. Doch keine Erlösung, das Publikum bleibt ungetröstet und ratlos zurück. Erst nach einer Verschnaufpause bricht der Applaus als Dank für die Leistung der dreizehn Künstler:innen los. Coulibaly bleibt im Saal, zeigt sich nicht auf der Bühne.
Trotz der Länge wird dieser Abend noch lange im Gedächtnis bleiben.
Serge Aimé Coulibaly, Faso Dans Théâtre: „Wakatt“, 21.1. 2023, Festspielhaus Sankt Pölten
Konzept & Choreografie: Serge Aimé Coulibaly. Komposition & Musikalische Leitung: Magic Malik.
Kreation & Performance: Marion Alzieu, Bibata Maiga, Jean Robert Koudogbo-Kiki, Antonia Naouele, Adonis Nebie, Jolie Ngemi, Sayouba Sigué, Zora Snake, Ahmed Soura, Marco Labellarte.
Live-Musik: Magic Malik Orchestra: Magic Malik Flöte, Maxime Zampieri: Schlagzeug, Jean-Luc Lehr: Bass.
Fotos: Sophie Garcia
Uraufführung: 17.9. 2020, tanzhaus nrw Düsseldorf.