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Die Zeit wird hier zum Raum, darin wird getanzt

Alix Eynaudi, Eiizabeth Ward, Mzamo Nondlwana, Samuel Feldhandler.

Was nicht erforscht, festgestellt, aufgezeichnet oder mündlich kommuniziert wird, ist nicht vorhanden. Die Tänzerin und Choreografin Elizabeth Ward befasst sich mit dem Gebliebenen und dem Verschwiegenen im Körpergedächtnis der Tänzerinnen und Tänzer. Sie beschäftigt sich mit den Gärten im 17. Jahrhundert und findet in den Regeln Gemeinsamkeiten mit den Tänzen aus dieser Zeit. "Hedera Helix" ist eine Choreografie für vier Tänzer:innen, Licht und Musik, gezeigt im Tanzquartier.

Eynaudi, Ward, Nondlwana und Feldhandler im Probenraum.Alix Eynaudi und Elizabeth Ward tanzen mit Samuel Feldhandler und Mzamo Nondlwana in den Lücken, die in der Geschichte der Tanzkunst klaffen, wie zwischen den Ranken des gemeinen Efeus, dessen botanischer Name, aufgepasst! – Hedera Helix ist. In diesen Hohlräumen der Erinnerungen im Tanzkörper steckt die Gemeinsamkeit der barocken Gartenkunst mit der (höfischen) Tanzkunst. Unter Ignorierung der britischen Insel kann behautet werden, dass sowohl der streng strukturierte barocke Garten wie die unter Louis XIV, dem Sonnenkönig, aufblühende Tanzkunst in Frankreich ihre Wurzeln haben. Beide Künste dienten der Verherrlichung der Herrscherfiguren und unterlagen strengen Regeln. Der Efeu ist selbst die Lücke, die die Tänzer:innen mit ihren gezielten Bewegungen füllen. Die Pflanze, die in frühester Jugend den Boden entlangkriecht, gehorcht keiner Norm, sie richtet sich auf und klettert mit ihren Haftwurzeln an Bäumen, Zäunen und Mauern bis zu 20 Meter hoch. Das passt keinem, der selbst der Höchste sein will, im barocken Garten ist der Efeu nicht willkommen und zieht sich in private Nutzgärten zurück, wo er sowohl als Heilpflanze wie als Giftspritze dient. Randbemerkung: Je älter er wird, bis zu 450 Jahre kann Hedera helix erreichen, desto giftiger wird er. Irgendwie hat er da eine Gemeinsamkeit mit manchen Menschen. Die beiden Frauen im Pas de deux.
Im barocken Garten von Schönbrunn hat Elizabeth Ward mit ihren Kolleg:innen über die strukturellen Zusammenhänge zwischen der Geometrie von Beeten, Rabatten und Terrassen auf Haupt- und Nebenachsen und der Choreografie von Schritten, Armbewegungen, Pas de deux und Solovariationen nachgedacht. Auch zwischen unterem und oberem Belvedere oder in dem prächtig wiederhergestellten Garten von Schloss Hof (Bezirk Gänserndorf) wären die Gedanken und Ideen fruchtbar gewesen. Das perfekte Ergebnis ist im Tanzquartier zu sehen gewesen. Nicht als Kotau für einen Fürsten oder König und schon gar nicht vor ihren Ersatzleuten, den Politikern, die das wohl gerne hätten, dass die Untertanen die Köpfe beugen oder gar die Knie. Nein, die Choreografie Hedera helix dient der Unterhaltung des Publikums und auch, so sagt es Elizabeth Ward, dem Versuch „zu verstehen, wie die Vergangenheit auf uns einwirkt, selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst sind.“ Noch mehr gesellschaftliche Aktualität gewünscht? Ward bietet sie: „Wir werden mutig genug, um uns gemeinsam der Zukunft zu stellen und unsere Erfahrungen mit der Welt durch den Tanz, durch die Fantasie und durch die kollektive Welterfahrung, die die Performance bietet, zu verdauen...“ Schön gesagt. Ein Spiel für die Festgäste im Schloss: Lasst die Räuber durchmarschieren.
Nicht nur die höfischen Kratzfüße und tiefen Kniebeugen überraschen im abwechslungsreichen Lichtdesign von Krisha Piplits, auch des Grotesktanzes wird gedacht. Der war zwar eher dem bürgerlichen Theater vorbehalten, hat jedoch auch in die Ballette Jean Baptist Lullys Eingang gefunden. Im bunten Kostüm legt der Tänzer Mzamo Nondlwana eine Spur zu jener Rolle in Theater und Tanz, die einst für das Fremde, Ungezähmte, Wilde gestanden ist. Nondlwana setzt den abgezirkelten Bewegungen, die die beiden Frauen mitunter zu mechanischen Puppen, zuckersüß, doch seelenlos, verwandeln, einen kräftigen, parodistischen Kontrapunkt. Der Raum ist weit, wenn sich das Quartett trennt, die Vier ihre eigenen Wege tanzen, kann ich gar nicht alle im Auge behalten, so ist klar, dass die ganz rechts Sitzenden eine andere Vorstellung sehen als die weit links. Schade, dass dieser feine Tanz durch die Zeit nur an zwei Abenden zu sehen ist. Ich könnte mehr davon vertragen. Tänzer Mzamo Nondlwana, im bunten Kostüm, geht seine eigenen Wege, tanzt seine eigenen Tänze. Die Musikkulisse von Özgür Sevinç, gibt sich wild und bald wieder sanft, die Tänzer:innen folgen dem Rhythmus oder lassen den Klang einfach rauschen. Mit zierlichen Schritten nähern sie sich als Festgäste dem unsichtbaren Sonnengott oder der Kaiserin im Schloss, in dem bei geöffneten Fenstern Löwengebrüll zu hören ist. Die Vier tanzen gemeinsam und synchron, rücken eng zusammen, entflechten sich wieder oder zeigen, jede(r) für sich, im Solo oder im Pas de deux ihre eigenen Schritte und Bewegungskombinationen. Sie schwingen die Arme, beugen die Handgelenke, zeigen biegsame Handgelenke, sind in einem Ballett von Lully oder Sylphiden, die sich zu einer nie gesehenen Fotografie aufstellen. Überraschend, wie nur vier Tänzer:innen die große Bühne in der Halle G mit Präsenz und Bewegung ausfüllen, wie sie die Lücken mit Energie und Spannung schließen und zeigen, dass Tanz mehr bewirken kann als gute Unterhaltung. Diese grüne Efeuranke gibt Hoffnung und lässt wieder an das Gute im Menschen, in der Welt glauben. Und auch den Tanz selbst, der deutliche Lebenszeichen gibt. Das Ende der Zeit der vielen selbstverliebten Ichs ist eingeläutet.

„Hedera helix“, ein Tanzereignis von Elizabeth Ward
Tanzquartier, 25., 26.11. 2022.
Konzept, Choreografie: Elizabeth Ward. Choreografie, Performance: Alix Eynaudi, Samuel Feldhandler, Mzamo Nondlwana, Elizabeth Ward.
Musik: Özgür Sevinç; Sound Mastering: Deniz Altun; Licht: Krisha Piplits.
Fotos: Elodie Grethen.