In Flandern geboren, im Tanz zu Hause.
Mit seiner jüngsten Choreografie, „Vlaemsch (chez moi)“, denkt der bewunderte Künstler Sidi Larbi Cherkaoui über das Fremdsein im Geburtsland nach und überspringt jegliche Grenze. „Chez moi“ im Titel bedeutet „zu Hause“, „Vlaemsch“ ist ein altes Wort für flämisch. Im Pass von Cherkaoui steht „Belgien“, geboren ist er in Antwerpen, in seinem Herzen steht als Heimat wohl „Bühne, Tanz und Musik“.
Schon bevor sich der rote Samtvorhang öffnet und der Bühnennebel sich hebt, gibt es eine Menge zu sehen. Ein graues Stillleben aus Apfel und Birne, Kelch und Totenkopf, das der flämische bildende Künstler Hans Op de Beeck als Skulptur an den Bühnenrand stellt. Flämisch ist auch der gesamte Abend. Der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui, ein leuchtender Stern des zeitgenössischen Tanzes, setzt sich mit seiner flandrischen Heimat auseinander und erzählt gleichzeitig vom Zustand der Welt. Mit Hans Op de Beeck lädt er in ein aufgeschnittenes Haus, das von unterschiedlichen Bewohnern belebt wird. Die Kostüme des flämischen Designers Jan-Jan Van Essche sind schwarz oder weiß, manchmal stehen sie – die „Schwarzen“ und die „Weißen“ – bedrohlich gegenüber. Hans Op de Beecks opulentes Bühnenbild mit Skulpturen und Objekten ist einheitlich grau. Die Tanzenden wechseln Rollen und Kostüme, als wär‘s ein Totentanz, marschieren sie alle auf, der Soldat, der Polizist, zwei Nazibuben in kurzen Hosen, Krankenschwester und Hausfrau, aus der Schachtel springt nicht der Teufel, sondern eine gelenkige Braut, deren Verrenkungen einiges über die Behandlung von Frauen aussagen. Die Frauen als Betrachtete und die Männer als Betrachter, auch davon erzählen die 15 Tänzerinnen und Tänzer. Aus vielen kleinen Geschichten, sakrale und profane, humorvolle und tiefernste, mit unterschiedlichen Rollen baut Cherkaoui eine ganze Welt, eine Welt, die keine Grenzen kennen sollte.Es ist durchaus keine Hommage an Flandern und dessen reiches kulturelles Erbe. Für Cherkaoui ist Flandern, Flämisch „ein Wort, das alles und nichts bedeutet und allzu oft verwendet wird, um Menschen voneinander zu trennen: ‚Du bist flämisch, nicht belgisch‘“. Für ihn ist Identität nichts Fixes, jegliche Identität sei fließend, wie auch die Kunst, der Tanz, die Musik, die sich auch nicht an Grenzen hielten. In seinem fluktuierenden Ensemble, Eastman genannt, sind Tänzer und Tänzerinnen aus allen Erdteilen auf der Bühne, das Produktionsteam ist flämisch pur: Unter der Leitung des flämischen Lautenspielers Floris de Rycker agiert auch sein Ensemble, Ratas del viejo Mundo (Ratten der alten Welt) auf der Bühne mit glockenreinem Gesang. Die Musik spielt, wie in allen Choreografien Cherkaouis, auch in diesem opulenten Tanzgemälde eine wesentliche Rolle. Floris de Rycker mischt Madrigale und Motteten mit orientalischen und afrikanischen Klängen und erinnert auch an den belgischen Chansonier Jacques Brel, der mit den Flamen gar nicht zurechtkam. Die bösen Lieder über die „grauen, humorlosen, stummen Flamen“ werden nicht zitiert, doch die Hymne des französisch sprechenden Chanteurs „Mijn vlakke Land, mijn Vlaanderland“ und das bekannte Lied „Marieke, Marieke“ fließen in ein Potpourri flandrischer Melodien ein, à cappella gesungen im Stil eines Renaissance-Madrigals.
Dass Cherkaoui die Musik für seine Tanzstücke immer mit Bedacht wählt, unterscheidet ihn von vielen Choreografen. Ob, wie diesmal, ein auf Alte Musik spezialisiertes Ensemble oder ein korsischer Männerchor, immer ergänzt das musikalische Element die bewegten Körper. Der Tanz regt zum Denken an, die Musik fördert die Emotionen.
Cherkaoui und sein Team beleuchten auch die Schattenseiten Flanderns, wo schon Ost- und Westflamen nicht gut mit einander auskommen. Die Themen in diesem bewegten Konzert sind so vielfältig, dass sie oft nur in flüchtigen Szenen, manchmal auch mit Worten auf Deutsch, Englisch, Französisch oder Flämisch vorüberhuschen. Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, Kolonialismus und Arbeitsleid, das Los der Frauen und die wechselseitigen Einflüsse der Kulturen der Welt sind Diskussionsstoff für viele Abende. Manches wird auch nur bildlich angesprochen: Hans Op de Beeck lässt einen gebeugten grauen Mann ein Boot über die Bühne rudern; Bilderrahmen in allen Größen sind neben Schachteln und Büchern ein wichtiges Requisit, sind nicht nur Metaphern, sondern auch einfach physische Objekte. Sie liegen im Weg herum, werden als Waffen oder als Schutzschild gebraucht, sind Grenzen, die durchbrochen werden wollen, Gefängnisse und auch Brücken. Besonders einprägsam ist das Tableau, wenn die Hausbesitzerin aus Geldmangel ihr großväterliches Erbe räumen muss und noch einmal die Ahnengalerie betrachtet. Die Köpfe der Tänzer:innen stecken alle in Rahmen, Rubens könnte die Porträts gemalt haben. Die oft mit dem Pinsel fuchtelnden Tänzer erinnern nicht nur an die flämische Malkunst, gemeinsam mit Op de Beeck bezieht sich Cherkaoui nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf die Vergangenheit Flanderns, als das Land mit Kunst und Kultur in Europa führend war. Das alte Zeug wird allerdings auch weggeräumt, die Bilderrahmen begrenzen keine Leinwand sondern eher den Blick. Sidi Larbi Cherkaoui ist in Antwerpen geboren. Sein Vater ist Marokkaner und Muslim, die Mutter Belgierin und katholisch. Doch seine Wurzeln sind für ihn ein Rhizom, das sich, über alle Grenzen hinweg, in allen Kulturen festhakt. Ohne sich zu wiederholen kann Cherkaoui mit seinen Choreografien, mehr ein musikalisches Tanztheater als reiner Tanz, jedes Publikum fesseln.
Die flämische Vertretung in Wien zeigte sich großzügig und bewirtete nach der Vorstellung Künstler:innen und Publikum mit Speis und Trank.
Sidi Larbi Cherkaoui / Eastman: „Vlaemsch (chez moi)“, 7. 10. Festspielhaus Sankt Pölten.
Konzept, Regie und Choreografie: Sidi Larbi Cherkaoui. Szenografie: Hans Op de Beeck. Kostümbild Jan-Jan Van Essche. Musikalische Leitung: Floris De Rycker. Soundscape & zusätzliche Musik: Tsubassa Hori. Live-Musik: Ratas del viejo Mundo. Uraufführung: 15. Juni 2022, Opera La Monnaie / De Munt, Brüssel.
Fotos: Filip Van Roe.