Skip to main content

Tanz am Abgrund: „Neuzeit“, Premiere in Linz

Noch sind die Wiesen grün, die Menschen voll Hoffnung.

Eröffnung der Tanzsaison 2022/23 in Linz mit der Premiere einer Inszenierung von Johannes Wieland, „Neuzeit“ genannt. Wieder einmal kann das Ensemble seine Qualität beweisen. Ob Schöntanz in Spitzenschuhen, anstrengende Akrobatik oder Tanztheater, wie Choreograf Wieland es verlangt, die 17 Tänzer:innen von Tanz Linz scheuen keine Anstrengung, sind geschmeidig, präzise und energiegeladen. Auf der großen Bühne des Linzer Musiktheaters nicht einfach. Auch wenn „Neuzeit“ eher verstörendes Tanztheater ist, der Jubel am Ende der Premiere  war ohrenbetäubend.

Harte Kämpfe, kurze Umarmungen prägen das Stück. Mit einem Knall wird es Licht auf der Bühne und gibt den Blick auf zwei unterschiedliche Welten frei. Das Paradies mit nackten Menschen im üppig grünenden Urwald. Allerdings unerreichbar, ein Panoramabild hinter Glas. Davor werden aus farblosen Kriechtieren farblose Zweibeiner, in der Mitte des Gewusels in fahlbraunen Kostümen, Zeitreisende im Urzustand, steht der Jäger mit erhobenem Speer. Während das Paradiesbild langsam versinkt, erscheinen nach und nach acht Statist:innen, die vor allem die Aufgabe haben, stillzustehen. Sie gehören keiner Zeit an, „Neuzeit“ ist „Nichtzeit“. Vergangenheit, Gegenwart, vielleicht auch Zukunft fallen zusammen. Pedro Tayette,  Nicole Stroh, Pavel Povrazník, Fleur Wijsman bei der Hauptprobe.
An der Bühnenrampe verhaarrt während der gesamten Dauer von gut einer Stunde, ein Paar mit Golfschlägern, aus Marmor gehauen, heutig, bewundernswert. Doch Choreograf und Regisseur Wieland traut der Ausdruckskraft des Tanzkörpers nicht, es muss geplaudert werden. Horst Heiss, Ensemblemitglied im Landestheater Linz, spricht belanglose Sätze ohne Aussagekraft. Damit stellt sich Choreograf Wieland auch als Autor vor. Mehr Aussagekraft haben die eindrucksvollen Bilder, die er teilweise als Tableaus mit erstarrten Tänzer:innen und nahezu bewegungslosen Statist:innen inszeniert. Auch weiß Wieland die perfekte Bühnenmaschinerie im Musiktheater am Volksgarten virtuos einzusetzen. Das paradiesische Tableau fährt in den Orkus, am Ende, nach Kampf und Streit, Umarmungen und Würgegriffen, fährt ein völlig anderes Panorama hoch: Crash!
Stumme Schreie, emporgereckte Arme, vergebliche Suche nach Hilfe. Bedrohlich spitz ragen die Trümmer empor, zwei Limousinen sind zusammenkracht, die Bruchstücke des Sicherheitsglases türmen sich zu Eisbergen. Auch die Drehbühne bekommt Arbeit, lässt die beiden Wracks unaufhörlich kreiseln hinter der Glasscheibe, während das nimmermüde Ensemble, angetrieben vom zirpenden Sound, in schier endloser Wiederholung kriecht und hopst, sich dreht und wendet, mit vorgeschobenen Hüften erstarrt oder in der Versenkung verschwindet. Einzig Lorenzo Ruta bleibt dann allein auf der Bühne, gibt nicht auf, findet aber auch kein Ziel, muss weiter tanzen, immer weiter tanzen.Angelica Mattiazzi tanzt Leid und Qual.
Noch niederschmetternder geht es nicht.
Trost gibt es keinen. Auch die vom Sprecher nach dem Monolog über „gebackene Pflaumen“ und Ameisen, jetzt ins Publikum geschleuderten Ratschläge helfen nicht. Wissen wir das nicht schon längst, dass wir uns wie blinde Tanzmäuse unaufhörlich im Kreis drehen, während die Welt zielgerichtet in den Abgrund gleitet oder saust? Niemand da, der uns Hoffnung gibt. So ausdrucksstark und anrührend, in Solos und perfekten Synchronbewegungen des Ensembles, der Tanz auch sein mag, „Neuzeit“ ist ein dunkles, niederdrückendes Stück Tanztheater.
Nwuzzeit ist Nichtzeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen zusammen.Sucht man in diesen trüben Zeiten nach dem alltäglichen Umhertappen im Dunkel, wenn sich der Vorhang hebt, nicht Licht, Freude, Trost und Erkenntnis? Als Faktenmeldung kann ich zwar keine Trostsprüche, doch Erfreuliches vermelden: Tanz Linz hat eine großartige neue Tänzerin engagiert, die in Wien als freie Tänzerin bereits seit einigen Jahren überaus geschätzt wird. Katharina Illnar ist an der MuK ausgebildet und hat ihren Bachelor mit Auszeichnung abgeschlossen. Seit dieser Saison ist sie festes Ensemblemitglied in der hervorragenden multikulturellen Compagnie Tanz Linz. Sie wird sich jetzt wie ihre Kolleginnen und Kollegen auf eine gänzlich andere Bewegungssprache konzentrieren müssen: Andrey Kaydanovskiy, ehemaliger Tänzer im Wiener Staatsballett und bereits international erfolgreicher Choreograf, wird mit Tanz Linz seine Fassung von Dornröschen einstudieren. Auch wenn es sicher nicht „Es war einmal“ heißen wird, so wird das Bruckner Orchester Linz die Tänzer:innen mit der bekannten Ballettmusik von Peter I. Tschaikowsky begleiten.

„Neuzeit“, ein Stück von Johannes Wieland.
Choreografie und Inszenierung: Johannes Wieland. Bühne: Momme Röhrbein, Kostüme: Angelika Rieck, Sounddesign: Donato Deliano.
Tanz und choreografische Zusammenarbeit: Elena Sofia Bisci, Matteo Cogliandro, Yuko Harada, Yu-Teng Huang, Katharina Illnar, Angelica Mattiazzi, Pavel Povrazník, Lorenzo Ruta, Arthur Samuel Sicilia, Nicole Stroh, Hinako Taira, Pedro Tayette, Fleur Wijsman; Darsteller: Horst Heiss; Statisterie.
Fotos: Laurent Ziegler
Premiere: 8. Oktober 2022. Nächste Termine: 14., 17., 25. Oktober 2022.