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Wiener Staatsballett: Nurejew Gala zum Saisonende

"Allegro brillante" von George Balanchine zum Anfang der Gala.

160 Euro, den Friseur nicht eingerechnet, hat die Dame in der Loge ausgegeben, um eine festliche Ballettvorstellung zu sehen. Bekommen hat sie einen glanzlosen bis langweiligen Abend, mit einer Einlage von Schülerinnen (garniert von Schülern) der Ballettakademie und einer Flamenco-Darbietung. Mit dem Tänzer und Choreografen Rudolf Nurejew hat der von Manuel Legris unter dem Titel „Nurejew Gala“ eingeführte Saisonabschlussabend gar nichts zu tun. Es würde niemandem wehtun, gäbe es schlicht eine „Gala“ zum Saisonende. In der kommenden Saison verzichtet Ballettchef Martin Schläpfer ohnehin auf ein zu 100 Prozent ausverkauftes Haus und einen würdigen Saisonausklang.

Masayu Kimoto und Trevor Hayden in "Allegro Brillante" von George Balanchine.Legris, Ballettdirektor an der Wiener Staatsoper 2010 bis 2020, hat den Galaabend seinem verehrten Lehrer und Freund, von 1983 bis ’89 Direktor des Opernballetts in Paris, gewidmet und das Wiener Staatsballett in seinem Sinn geführt. Unter Ballettdirektor Martin Schläpfer hat der Name Nurejews im Titel einer Saisonabschlussgala wenig Sinn. Schläpfer hat kaum Beziehung zu Nurejew, was an seiner Einstudierung des bravourösen, Gala tauglichen Pas de deux aus dem Ballett „Le Corsaire“ basierend auf der Choreografie von Rudolf Nurejew & Margot Fonteyn, deutlich zu sehen war. Hyo-Jung Kang und Davide Dato führten sich als Zirkusartisten auf. Noch ein Fouetté en tournant, 36 sollen es gewesen sen, die Hyo-Jung Kang geschafft hat, noch eine Pirouette, noch eine halbe Tour in der Manege. Dirigent Guillermo Garcia Calvo macht den Einpeitscher. Medora im Tutu: Pas de deux aus "Le Corsaire" in der Choreografie von Rudolf Nurejew. © Daniel Southern ROH collection nureyev orgIn Nurejews Einstudierung trägt die Ballerina ein Tutu. Hyo-Jung Kang hat ein wadenlanges, fließendes Kleid getragen. Die Rocklänge der Ballerina ist jedoch für die Choreografie wesentlich, sie ist exakt für diese entwickelt. Sie zu ändern, ist kein glücklicher Eingriff. Das Publikum lässt sich mitreißen, gerät aus dem Häuschen, glaubt sich in der Stadthalle, genießt das Kasperltheater. Mit dem Choreografen und Tänzer Nurejew hat das nichts mehr zu tun,Davide Dato und Hyo-Jung Kang in Nurejews "Le Cosaire" Ruhiger dürfen es Olga Esina und Roman Lazik im Pas de deux aus „Cendrillon“ angehen. Die Choreografie von Nurejew hat Charles Jude, Tänzer im Ballett der Pariser Oper unter Nurejews Direktion und Mitglied der Rudolf Nureyev Foundation, mit Esina und Lazik einstudiert. Roman Lazik, von Schläpfer gar nicht nett als „Senior Tänzer“ etikettiert, verlässt das Wiener Staatsballett. Das Blumenmeer und der von vielen Herzen kommende Applaus soll Lazik Dank und Trost sein. Ballettfreundinnen und -freunde werden ihn vermissen. Nurejew: "Cendrillon", mit Olga Esina und Roman Lazik.Ich hätte ihn gerne noch einmal als Onegin in der gleichnamigen Choreografie von John Cranko gesehen (ab 20.9.2022 wieder im Programm).
Alles kann man nicht haben, und manches will man auch nicht haben. Zum Beispiel die Schülerinnen der Ballettakademie. Natürlich sollen sie ihre Fortschritte zeigen, aber bitte in einer eigenen Aufführung, eine Gala und sämtliche anderen Auftritte sind nicht für Schüler:innen, und auch das zahlende Publikum hat ein Recht auf Qualität, die nur die Mitglieder des Staatsballetts bieten können. Sie werden desavouiert, wenn sie mit den Auszubildenden in einen Topf geworfen werden. Die Studierenden der Ballettakademie in einer Choreografie von Hans van Manen mit dem Titel "Unisono", einstimmig und langweilig.
Ähnlich geht es mir auch mit Flamenco-Getrappel mitten in einem Ballettabend. Dass den Tänzer:innen durch diese Spompanadel eine Möglichkeit geraubt worden ist, sich zum Saisonschluss noch einmal auf der Bühne zu präsentieren, zeugt von mangelnder Achtung vor dem Ensemble, das Martin Schläpfer so gerne „meines“ nennt, obwohl es ihm nicht gehört. Die Sklaverei ist abgeschafft worden. Flamenco kann, wer mag, immer wieder im Festspielhaus Sankt Pölten sehen oder heuer im Rahmen des ImPulsTanz Festivals, wenn Israel Galván auftritt. Der als Erneuerer des Flamenco mit Erweiterungen zum erzählenden Tanz gepriesene Bailor wäre, wenn überhaupt nötig und dramaturgisch begründbar, die richtige Entscheidung gewesen. Galván ist dem modernen Bühnentanz viel näher als David Coria, der puren Flamenco zeigt, wie ihn Spanienreisende kennen. David Coria zeigt sein Flamencosolo "Tempo". David Lagos begleitet den bailor als cantaor, José Luis Medina  mit der guitarra flamenca.. Aus mit dem Ärger, der ohnehin allmählich gegen Wut tendiert. Das Positive sollte mehr Raum bekommen. Zum Beispiel die Premiere des in Wien bestens bekannten Choreografie-Paares Sol León & Paul Lightfoot von „Source of Inspiration“. Diese Quelle ist Kollege, Lehrer und Freund Hans van Manen. Ihm ist das Stück auch gewidmet, wie (nur) im Programmbuch nachzulesen ist. Eine Frau zwischen zwei Männern, oder eher eine Frau und zwei Männer, denn viel zu tun haben die drei miteinander nicht. Mit Bedacht hat Olivier Coëffard, der „Source of Inspiration“ in Wien einstudiert hat, Ioanna Avraam als Solistin ausgewählt.Beeindruckend, Ioanna Avraam (mit Masayu Kimoto) in "Source of Inspiration" von Sol León & Paul Lightfoot. Sie hat schon in León-Lightfoots überaus komischer Choreografie „Skew Whiff“ brilliert, die gleich bei der Premiere im Jänner 2011 vom Publikum gefeiert worden ist. Avraam hat damals gegen drei Männer (Premierenbesetzung: Denys Cherevychko, Mihail Sosnovschi, Masayu Kimoto) getanzt. 2015 holte Legris das windschiefe Stück (Eindeutschung von skew-whiff) aus dem Repertoire in die Nurejew-Gala, die, wie die verpatzte heuer, mit „Allegro brillante“ von George Balanchine eröffnet worden ist. War der Klassiker zur Musik von Peter Tschaikowski schon damals etwas angegraut, so ist er jetzt offenbar samt den fadfarbenen Kostümen bereits 66 Jahre alt, zu alt für eine Gala des Wiener Staatsballetts. Manche der Choreografien von Mister B. haben ihre Halbwertszeit bereits überschritten. "Source of Inspiration", eine Frau (Avraam) zwischen zwei Männern (Kimoto, Edward Cooper). Übrigens hat bei der Gala 2015 der Ausnahmetänzer Friedemann Vogel in „Lieder eines fahrenden Gesellen“ (Maurice Béjart / Gustav Mahler) getanzt, sein Partner war Robert Gabdullin, der die Compagnie verlassen hat und an der Ballettakademie unterrichtet. Nun ist Friedemann Vogel wieder Gast einer Gala und tanzt in derselben Choreografie, die nun den originalen Titel des von Maurice Béjart 1971 für Rudolf Nurejew und Paolo Bortoluzzi geschaffenen Tanzstücks „Le Chant du Compagnon errant“ trägt. Friedemann Vogel, nicht so brillant wie erwartet in Béjarts "Le Chant du Compagnon errant." Im Hintergrund Guillaume Côté.Die Besetzung der Uraufführung war 1977 auch in Wien zu sehen. Später hat Nurejew die Lieder eines fahrenden Gesellen“ von Gustav Mahler in Wien mit wechselnden Partnern getanzt. Auch mit dem Ersten Solotänzer im Ballett der Wiener Staatsoper Michael Birkmeyer. Es muss in dieser Saison gewesen sein, dass sich der Männer-Pas de deux als Glanzpunkt in die Bildergalerie meines Kopfes eingeprägt hat. Auch von dem verehrungswürdigen Tänzer Friedemann Vogel – „Verkörperung des Tanzes“ wird er in einem Porträt des SWR genannt – war ich 2015 begeistert, Gabdullin hat nicht gestört. Diesmal aber war es wohl der kanadische Tänzer Guillaume Côté, der den Funken nicht zum Glühen gebracht hat. Dieses wunderschöne Männerduo blieb schal und oberflächlich. Friedemann Vogel als fahrender Geselle.
„Source of Inspiration“ hingegen konnte packen. In einer differenzierten Lichtregie von Tom Bevoort und der eigenen Handschrift von Sol León & Paul Lightfoot konnten die Tänzer Edward Cooper (Corps de Ballet) und Masayu Kimoto (Erster Solotänzer) sowie Solotänzerin Ioanna Avraam ihre Solos zeigen und zum Nachdenken über Beziehung und Kreativität, über die Rolle der Frau im Tanz und das gemeinsame Ertanzen von Ideen anregen. Eine besinnliche Inspiration für das Publikum und auch das Team einer Choreografie, die Tänzer: innen und Choreograf:innen. Ioanna Avraam wird schon im Herbst wieder in einer Solorolle zu sehen sein, als Tatjana am 26.9. und 3.10. 2022 in John Crankos „Onegin“. Nicht nur die Musik von Philip Glass, auch die Körpersprache erinnert mich an Stephan Thoss und das von ihm kreierte Ballett "Blabarts Geheimnis." Nehme ich alles nur in allem, so bleibt tatsächlich nur „Source of Inspiration“ als Gala-Erlebnis. Bei allen anderen Nummern im Gala-Zirkus fehlte (mir) die Inspiration. Überdies sind mir einige liebgewordene Tänzer und Tänzerinnen abgegangen, von den manche eine Abschiedsvorstellung verdient hätten. Rebecca Horner nimmt sich ein Karenzjahr, um im NDT zu tanzen, da können wir hoffen, dass sie wieder zurückfindet in die Compagnie, mit der sie 15 Jahren verbunden ist. Neben all denen, die verletzt oder unabkömmlich waren, fehlt mir auch Andrey Kaydanovskiy, der durch seine Bühnenpräsenz und die Rollengestaltung aufgefallen ist. Wenn er in John Neumeiers Ballett „Josephs Legende“ Potiphars Weib ein Glas Wasser bringt, erzählt er, während er die Bühne quert, das ganze Elend dieser einsamen Frau. Weil seine internationale Karriere als Choreograf voranschreitet, hört Andrey Kaydanovskiy auf zu tanzen und verschwindet einfach aus der Compagnie. Ein Abschiedsauftritt innerhalb des Galaabends und ein herzliches Dankeschön waren ihm nicht gegönnt. Ein letzter Blick auf Roman Lazik. Olga Esina bleibt uns glücklicherweise erhalten. Schluss! Von den sichtbaren Trainingsrückständen und Probenmängeln wird bei einem Galaabend nicht gesprochen. Zum Abschluss Erfreuliches: Arne Vandervelde ist zum Solotänzer ernannt worden, Natalya Butchko zur Halbsolistin. Weniger erfreulich, doch der Lauf der Ballettwelt: Die Halbsolistin Adele Fiocchi verlässt das Ensemble; wie die Solotänzerin Rebecca Horner hat sich auch die Erste Solistin Maria Yakovleva für ein Jahr beurlauben lassen. Die verdiente und engagierte Ballettmeisterin Alice Necsea tritt in den Ruhestand. Und, wie gesagt, auch Andrey Kaydanovskiy verlässt die Compagnie. Die Hoffnung, dass er als Choreograf wieder kommt, darf nicht sterben.

Nurejew Gala 2022, 26. Juni, Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Choreografien von Rudolf Nurejew, George Balanchine, Maurice Béjart, David Coria, Sol León & Paul Lightfoot, Hans van Manen, Marius Petipa und Martin Schläpfer.
Fotos: Ashley Taylor, © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor