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Mystery Sonatas / For Rosa, ImPulsTanz Festival

Großartiges Lichtdesign von Minna Tikkainen.

Rosas heißt Anne Teresa De Keersmaekers Compagnie, gewidmet ist die neue Arbeit, „Mystery Sonatas“, zur gleichnamigen Komposition von Heinrich Ignaz Franz Biber fünf kämpferischen Frauen mit Namen Rosa: Rosa Bonheur, Rosa Luxemburg, Rosa Parks, Rosa Vergaelen und Rosa, die 15-jährige Klimaaktivistin, die bei den Überschwemmungen in Belgien im Jahr 2021 ums Leben gekommen ist. So weit so schön – 90 Minuten lang. Weniger schön ist, dass das Publikum bestraft wird, indem es weitere 45 Minuten (also fast zweieinnhalb Stunden insgesamt) im Dämmerlicht ausharren muss. Die Erschöpfung der doppelten Konzentration auf Tanz und Musik macht sich auch im wenig animierten Premieren-Applaus hörbar.

Das einzige erhaltene Porträt des Komponisten Heinrich I. F. Biber im Alter von 36 Jahren, gestochen von Paul Seel. © gemeinfreiDer zu seiner Zeit berühmte Geiger und Komponist Heinrich Ignaz Biber – getauft 12. August 1644 in Wartenberg, Böhmen, als Hennericus Pieber; gestorben 3. Mai 1704 in Salzburg – hat seine „Mystery Sonatas“, auch „Rosenkranzsonate" genannt, nicht zur Unterhaltung komponiert, sie sind als Begleitung des Rosenkranzgebetes römisch-katholischer Christen, das der Jungfrau Maria gewidmet ist, entstanden. Die 15 Sonaten sind in drei Fünfergruppen geteilt, die dem Gebetszyklus entsprechen: freudenreich, schmerzhaft, glorreich. Als Draufgabe hat Biber eine Sonate für Violine solo komponiert, die auch die schier endlose Vorstellung abschließt, wenn die Tänzer:innen die Bühne verlassen haben. Choreografie und Lichtdesign: "Mystery Sonatas", Anne Teresa De Keersmaeker.
Bibers Musik, betörend ausgeführt von Amandine Beyer mit der Violine und ihrem Ensemble Gli Incogniti, evoziert auch in Ungläubigen Bilder aus religiösen Mythen und der Kunstgeschichte. Durch den Tanz hat man jedoch keine Gelegenheit, eigene Bilder zu kreieren, sie werden von den Tänzer:innen vorgegeben. Es wird fröhlich gehopst, einfach nur gegangen und gelaufen, auch gestampft und im Kreis gedreht oder im Krebsgang der barocken Kompositionsstruktur gefolgt. In Solos und stillen Tableaus erscheinen der Schmerzensmann, die trauernden Marien, Prozessionen und Protestmärsche. Mitten in den von De Keersmaeker ausgewählten Sonaten, platzt der Country-Hit von Lynn Anderson aus dem 1960er Jahren, „I Never Promised You a Rose Garden“ herein.
Solo im roten Kleid.Ein Schlag in die Magengrube, Kitsch statt Kontemplation oder einfach ein Spiel mit dem Namen der Rose. Dass wir nicht im Garten leben, in dem die Rosen keine Dornen haben, wissen wir spätestens jetzt, nach drei Jahren Pandemie. Klar, die bekannte Melodie reißt die Träumenden aus dem Schlaf, doch die Munterkeit hält nicht lange an.
Links die Gruppe der Musiker:innen. So schöne, eindrucksvolle Musik steht für sich allein. Biber verlangt vor allem von der Violinvirtuosin eigentlich Unmögliches. Die wundersame Stimmung entsteht durch die scordierte Violine. Die Technik der Scordatura bedeutet, dass ein Saiteninstrument anders als der Norm entsprechend gestimmt ist. „Die Skordatur erlaubt bereits in tiefen Lagen das Spielen schwieriger Akkorde und eröffnet dem Instrument gleichzeitig andere Klangmöglichkeiten durch Über- oder Unterspannung der Saiten“ (Wikipedia). Dieser nahezu überirdischen Schönheit von Amandine Beyers Geigenspiel sollte man ungestört zuhören können. Auch wenn zu jeder guten Musik, und vor allem zur barocken mit alle den inhärenten Tanzschritten, in Sarabande und Gigue, Allemande und Sarabande, getanzt werden kann, schmälert der Tanz immer den Hörgenuss, zieht die Aufmerksamkeit von den Ohren zu den Augen. Die Tänzer:innen wechseln einander ab. Die meiste Zeit sind 5 von ihnen auf der Bühne, wie auch die 5 Musiker:innen. Schade, dass es von der Interpretation der „Mystery Sonatas“ durch Amandine Beyer und Gli Incogniti keine Aufnahme gibt, die man sich in Ruhe ohne Ablenkung anhören kann. Für den Tanz würde eine weniger eindrucksvolle Musik genügen, vielleicht „The Rosegarden“.
Das phänomenale Lichtdesign von Minna Tiikkainen jedoch möchte nicht missen. Lichtkaskaden in allen Farben, auf Grau, schießen aus einer metallischen Schleife an der Decke. Die einzelnen Sonaten werden durch grelle Blitze getrennt, Schatten, scharf und schwarz, verwischt und flüchtig, werden an die Rückwand geworfen, die Tänzer:innen bleiben meistens im Halbdunkel. Die vier Musiker:innen im Bühnenhintergrund sitzen im warmen Licht. Solistin Amandine Beyer steht. Dieses Konzept ist Tanz genug.
Aperçu: Die „Mystery Sonatas“ sind um 1676 geschrieben worden, neun Jahre bevor der große Johann Sebastian geboren wurde.

„Mystery Sonatas / For Rosa
Musik: „Mystery Sonatas“, Heinrich Ignaz Franz Biber, musikalische Leitung Amandine Beyer.
Choreografie Anne Teresa De Keersmaeker; Performer:innen Lav Crnčević, Sophia Dinkel, José Paulo dos Santos Rafa Galdino, Mariana Miranda, Laura Maria Poletti, Cintia Sebök, Jacob Storer, Mamadou Wagué.
Set und Lichtdesign: Minna Tiikkainen; Kostüme: Fauve Ryckenbusch.
Im Rahmen von ImPulsTanz, Volkstheater, 12. Juli 2022. Folgevorstellungen: 13., 14., 15. Juli 2022.
Fotos: Anne Van Aerschot