Staatsballett: Plattform Choreografie, Volksoper
Ein Projekt, um Choreografie-Talente in der Compagnie zu entdecken und „jungen Choreografen“ eine Spielwiese zu geben, gibt es schon lange und in vielen Ballett-Ensembles. In Wien heißt die Vorstellung choreografischer Experimente seit diesem Jahr „Plattform Choreographie“. Die Premiere war als Matinee am Feiertag in der Volksoper angesetzt. Zwei Tänzerinnen und vier Tänzer haben sich auf die Plattform gewagt und mit Kolleginnen und Kollegen ihre choreografischen Ideen verwirklicht. Feiertag war’s, Sommerhitze herrschte, zahlende Zuschauer:innen waren kaum zu sehen. Wer gekommen war – junges Volk, Freund:innen, Kolleg:innen und alle, die mit dem Wiener Staatsballett in Verbindung sind –, zeigte mit Jubel und Applaus lautstark Begeisterung und belohnt damit auch den Mut, sich auf ein Metier einzulassen, das dem Tanz vorausgeht.
Wäre nicht Trevor Hayden, der mit Esprit und Musikalität den krönenden Abschluss der Matinee geboten hat, ich wäre völlig geknickt in den Nachmittag gewankt. Im spärlichen Licht vermitteln die interessanteren, nicht auf Spitze getanzten Choreografien Tristesse, Hoffnungslosigkeit, sogar Endzeitstimmung. Vielleicht hätte ein heller Hintergrund im schwarz ausgekleideten Guckkasten, etwas zur Hebung des Stimmungsbarometers beigetragen. Wie überhaupt auf einen wesentlichen Teil einer Bühnenaufführung, die Beleuchtung, kaum Wert gelegt worden ist.
Zum Introitus tanzen sechs Tänzerinnen auf Spitze und drei Tänzer zum „Stabat Mater“ (traurig, sehr traurig, der Sohn ist tot) von Antonio Vivaldi. Choreografin Sonia Dvořák gibt den 15 Minuten den melancholieträchtigen Titel „Die Qual(len)“. Es geht ja auch, entnehme ich dem Programmheft, um „Trauma, Opferrolle und Vergebung“. Robert Weithas macht es mir mit „Raum 112“ nicht leichter, auch wenn mich sein Tanzstück tief beeindruckt. Vier Personen erzählen, differenziert, plastisch und verständlich, ihre Geschichte – ohne Worte. Weithas gibt den Tänzer:innen – Olivia Poropat, Mila Schmidt, Gabriele Aime, Cosmin Marinescu, – eine ungewohnte Bewegungssprache und führt sie aufmerksam durch die Soloauftritte. Doch allein das perfekte Bühnenbild, ein kleiner Raum, macht Angst. Ich meine, Zimmer 112 liegt in einer psychiatrischen Anstalt oder die Menschen werden dort eingesperrt, um eine Selbsterfahrungssitzung abzuhalten. Nacheinander treten sie vor, offenbaren ihre Träume und Sehnsüchte. In diesem beklemmenden Tanztheater leuchtet kein Mond, kein Stern. François-Eloi Lavignac evoziert die Dunkelheit schon durch die Musik für „Train“ („Zug“), dem bearbeiteten 2. Satz von Franz Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“. Vermutlich war ihm aber nicht der „wilde Knochenmann“, dem im Gedicht von Matthias Claudius das Mädchen zuruft, vielleicht auch verschreckt flüstert: „Vorüber! Ach vorüber!“, wichtig, sondern Schuberts Vertonung dieses Gedichts, dessen Einleitung er im 2. Satz seines Quartetts zitiert. Im „Andante con moto“ hört man förmlich die Angstschreie des Mädchens. Für die zehn Tänzer:innen hat der italienische Musiker / Musikproduzent gemeinsam mit dem Choreografen den genannten 2. Satz de- und neu konstruiert: “AC-phase Induction“ war, wie der Tanz, eine Uraufführung. Die vier ätherischen Wesen, die Javier González Cabrera zur Musik der dänischen Singer-Songwritern Agnes Obel sowie der kanadischen Cellistin Julia Kent tanzen lässt, erzählen nichts, haben und vermitteln auch keine Gefühle, sind einfach da in netten Kostümen und erinnern ein wenig an Eistanzen.
Doch auch das sehe ich gern.
Das englische Adjektiv tight hat eine schier unerschöpfliche Anzahl von Bedeutungen, und wenn Tainá Ferreira Luiz ihrer Choreografie den Titel „Tight“ gibt, kann sie hart und stark meinen, eng, streng oder auch straff gespannt. Ich sehe die Solistin Mila Schmidt als eine gepeinigte Frau, die immer wieder versucht, sich aufzurichten, doch meist zusammen gekauert am Verkriechen ist. Auch die beiden Paare – Sarah Branch / Keisuke Nejime; László Benedek / Martin Winter – haben kein gutes Leben, es sind Gefangene, die sich nach Freiheit sehnen. Gehen wir wirklich zum Tanz oder ins Theater, in eine Aussstellung oder ins Konzert, um zu erfahren, dass die Welt schlecht und das Leben hart ist? Kommen wir, um den Kunsttempel als mühselig Beladene wieder zu verlassen? Es sind Tänzer und Tänzerinnen, die ihre Gedaken zeigen, sollten sie nicht vor Lebenslust sprühen?
Positiv anzumerken ist, dass Choreografin Ferreira Luiz nicht in der Kiste mit den CDs gewühlt hat, sondern für die musikalische Unterstüzung von "Tight" wie Kollege Lavignac einen Kompositionsauftrag vergeben hat. Komponist Sebastian Brugner-Luiz ist Solopauker in der Volksoper und spielt mit fünf Kollegen (sic) aus dem Volksopernorchester im überaus komischen Sextett, „Louie’s Cage Percussion“.
Schon wieder zu viel erzählt, denn der Affenkönig Louie aus Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ hat mit der Choreografie ebenso wenig zu tun wie der Komponist John Cage. Brugner-Luis ist als Komponist gefragt. Schade, mit Louie’s Cage wäre die schwere Last des Lebens für kurze Zeit etwas leichter geworden. Wie bei François-Eloi Lavignac entstehen die Bewegungen aus der Musik, die ebenso präsent ist wie der Tanz. Die Hoffnung, dass die Tristesse nicht auch der Zustand der jungen Choreografinnen und Choreografen ist, nährt am Ende Trevor Hayden mit seiner fulminanten Show „Lost & Found“.
Der Amerikaner Trevor Hayden war 2010/11 zum Mitglied des Staatsballetts geworden, schon tanzte er sich als Max oder Moritz in die Herzen der Zuschauerinnen. Vier Jahre später ließ er andere für sich tanzen und eroberte weitere Herzen, oder dieselben noch stürmischer, mit seiner Choreografie „Double Date“. Wem dieses Ballett zu vier Händen nicht in Erinnerung ist, der hat es nicht gesehen. Ballettdirektor Manuel Legris hatte es gesehen und 2015 gleich in sein Programm „Junge Talente des Wiener Staatsballetts“ in der Volksoper integriert. Dazwischen war Hayden auch einmal deprimiert und kreierte den Blutschritt: „Pas de Sang“. Diesmal aber sorgt er mit seiner bunten Show für beste Unterhaltung mit ebenso komischem wie perfektem Tanz und einer Liebe zum Detail, in allen Teilen einer Choreografie, Bewegung, Bühnenbild, Licht, Musik. Mit Schwung dreht er das Rad der Zeit zurück in die goldenen 20er Jahre und lädt uns in Cabaret, wo Gitarrist Francisco Tarrega († 1909), Jelly-Roll Morton († 1941) und der um einiges ältere mexikanische Filmkomponist Juan Garcia Esquivél († 2002) am Boulevard der zerbrochenen Träume aufspielen. Zusätzlich spielt The Mighty Moog (also der allen (Pop)MusikerInnen bekannte Moog Synthesizer) einer attraktiven Carmen auf. Sechs Männer tanzen Mortons Black Bottom Stomp, ohne außer Atem zu geraten, aber auch ohne die beiden Damen (?) zu beachten, die ins Etablissement hereinschneien. Die eine (Elena Bottaro) bleibt abseits, die andere aber (Gloria Todeschini) weiß, was sie dem Cabaret schuldig ist und produziert sich, bis sie im wilden Tanz ihre Schuhe wegwirft. Imponieren kann sie den Herren nicht, die sehen in der Dame im roten Kleid eine Carmen und beginnen das Verführungsspiel. Verführt wird das Publikum durch das Video von Balázs Delbo, das Andrew Mezvinsky auch noch animiert hat. Diese Show in der Show ist köstlich genug. Die Kostüme für ihre Kollegen und die Kolleginnen hat die Tänzerin Iliana Chivarova entworfen. So hat der Choreograf mit den Tänzern und den Ballerinen, deren komisches Talent ernst zu nehmen ist, eine höchst amüsante, musikalisch stimmige Aufführung gezeigt. Wenn die Freude und das Lachen verloren wurden, haben Hayden und sein Team sie wieder gefunden. „Lost & Found“ hat es möglich gemacht, sich wieder aus dem Sumpf der Tristesse herauszuarbeiten und die Präsentation der Choreografie-Elevi:nnen im aufrechten Gang zu verlassen. Das Projekt, Tänzerinnen und Tänzern aus dem Ensemble Gelegenheit zu geben, als Choreografinnen / Choreografen zu experimentieren, ist seit langem in vielen Compagnien üblich. „Junge Choreografen“ – nur einer der Namen für das in Wien praktizierte Konzept – präsentieren seit Ende der 1970er-Jahre ihre ersten Werke. Ob „choreo.lab“ oder „Plattform“, die Veranstaltungen erweisen sich oft als Sprungbrett für eine Karriere als Choreografin / Choreograf. Beispiele aus der Vergangenheit? Liz King, Manfred Aichinger, Bernd Bienert und, aktuell, Andrey Kaydanovskiy. Er hat sein Opus primum als „junger Choreograf des Wiener Staatsballetts“ gezeigt, jetzt arbeitet er international. Zuletzt ist die Reihe vom Ballettclub der Staatsoper und Volksoper veranstaltet worden, den gibt es nicht mehr. Die einstigen Club-Mitglieder sind jetzt im „Freundeskreis Wiener Staatsballett“. Die Intentionen und Aufgaben dieses Kreises: hier.
Plattform Choreografie: Sechs Uraufführungen des Wiener Staatsballetts in der Volksoper.
„Die Qual(len)”: Choreografie: Sonia Dvořák . Musik: Antonio Vivaldi „Stabat Mater” RV 621.
“Raum 112”: Choreografie Robert Weithas. Musik: Danny Bensi & Saunder Jurriaans, Antonio Sánchez.
„Train“: Choreografie François-Eloi Lavignac. Musik: „AC-3 phase Induction“ von Edoardo Robert Elliot nach Franz Schubert.
„Etéreo“: Choreografie: Javier González Cabrera, der als Ersatz für den erkrankten Daniel Vizcayo in seiner Choreografie auch getanzt hat. Musik: Agnes Obel, Julia Kent. „Tight“: Choreografie Tainá Ferreira Luiz. Musik: „Tight“ von Sebastian Brugner-Luiz.‘
„Lost & Found“: Choreografie: Jolly-Roll Morton, Juan Garcia Esquivel, Francisco Tarrega, Georges Bizet / The Mighty Moog. Animation: Andrew Mezvinsky; Kostüme: Iliana Chivarova; Video Balász Delbo.
Getanzt haben: Laszló Benedek, Elena Bottaro, Sarah Branch, Marie Breuilles, Laura Cislaghi, Edward Cooper, Francesco Costa, Giovanni Cusin, Andrés Garcia Torres, Sveva Gargiulo, Javier González Cabrera, Marian Furnica, Adi Hanan, Alexandra Inculet, Helen Clare Kinney, Zsófia Laczkó, Gaspare LI Mandri, Aleksandra Liashenko, Fiona McGee, Cosmin Marinescu, Igor Milos, Keisuke Nejime, Kristián Pokorný, Olivia Poropat, SInthia Liz, Mila Schmidt, Claudine Schoch, Duccio Tariello, Gloria Todeschini, Chiara Uderzo, Arne Vandervelde, Celine Janou Weder, Géraud Wielick, Martin Winter.
Wiener Staatsballett, 16. & 19. Juni 2022, Volksoper.
Fotos: Ashley Taylor, © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor