Wien Modern: „Growing Sideways“, Performance
Die Musiker tanzen, Tänzerinnen und Tänzer machen Musik. In der Aufführung „Growing Sideways“ ist ein Team von sechs Künstler:innen auf der Bühne, die einen vergnüglichen Karneval (sogar mit Tieren) veranstalten. Die künstlerische Leitung dieses köstlichen Musiktheaters obliegt dem Komponisten und Musiker Jorge Sánches-Chiong und der Choreografin, Tänzerin und Forscherin Brigitte Wilfing. Die Begeisterung der Ausführenden ist auf das Publikum übergesprungen, das sich mit freudigem Klatschen bedankt hat.
Zuerst wird aufgeräumt. Die Instrumente verstellen den Tänzer:innen (Brigitte Wilfing, Mirjam Klebel, Andrew Champlin) den Platz. Schlagzeug und Tasteninstrumente, Notenständer und die kleinen mit den Füßen zu bedienenden Hammerwerke müssen verschoben werden. Dabei zieren sich auch die Tänzer:innen nicht. Mirjam Klebel bläst ins Horn, ein Auftakt, damit das bewegte Konzert beginnen kann. David Christopher Panzl bearbeitet mit Inbrunst die Pauken, Alfredo Ovalles beugt sich tief über die Tasten und der künstlerische Leiter Jorge Sánches-Chiong werkelt bescheiden im Hintergrund. Als langbeinige Störche staken die Tänzer:innen über die Bühne, suchen sich ihren Weg zwischen Musikern und Instrumenten, gehen seitwärts, wie es der Titel vorschreibt. Dass diese Bewegungen im Profil an den großen Vaclav Nijinsksiy und seinen „Faun“ erinnern, ist unvermeidlich.
Das Konzert ist laut, eine herrliche Kakophonie, mehr Rhythmus als Melodie, es herrscht Chaos auf der Bühne, doch dieses Chaos ist wohlgeordnet. Wilfings Tanzvokabular mit exakten Rumpfbeugen, Armbewegungen auf einem Bein, Sidesteps und Drehungen basiert auf Wiederholung und Krebsgang. Wer mag, kann das als Blick zurück und nach vor deuten, aus Lernen aus der Vergangenheit und Hoffen auf die Zukunft.
Lise Lendais hat Männern und Frauen kurze schwarze Hosen aus seidigem Stoff und ebensolche Hemden angepasst, Lichtdesigner Jan Maria Lukas lässt die freien Hautstellen appetitlich leuchten.
Tänzer:innen und Musiker werden von fast kindlicher Freude und Energie angetrieben, verwandeln sich in pfeifende, tirilierende Vögel, heimmische Bachstelzen und Wiedehopfe, die bald im Urwald landen, zu dumpfen Trommelschlägen Urlaute von sich geben. Der Vogeltanz der Kolleg:innen regt auch die Musiker zur Bewegung an, sie packen ihre Instrumente und begeben sich mitten ins tänzerische Treiben. TE-R (Louise Linsenbolz & Thomas Wagensommerer) steuern elektronischen Sound bei, der Wirbel wird lauter und bunter, alles bewegt sich, alles dreht sich, ein dröhnendes Ringelspiel auf der Flucht. Ich halte den Kopf fest, damit er mir nicht davonfliegt.
Wie immer man diese Stunde nennen möchte, Musiktheater oder Performance, tanzende Musiker oder musizierende Tänzer:innen, „Growing Sideways“ arbeitet „an den Übergängen von Choreografie und Komposition. Gemeinsam mit dem Assemble andotherstage initiieren sie einen kollaborativen Arbeitsprozess, in dem sie sich mit Unmöglichkeiten konfrontieren.“ (Brigitte Wilfing)
Die Erklärung der Choreografin Wilfing muss man nicht unbedingt verstehen, es genügt, den engagierten Musikern zuzuschauen und zuzuhören und den Körpereinsatz der exzellenten Tänzerinnen / des großartigen Tänzers zu genießen. Es ist schon schwer genug, sich im Leben auszukennen, Tanz und Musik verlangen vom Publikum mehr Gefühl als Intellekt, und diesmal evoziert die tänzerische Musikshow (musikalische Tanzshow) hochgradig gute Laune und Wohlbefinden.
Wien Modern: „Growing Sideways“, Künstlerische Leitung Jorge Sánchez-Chiong, Brigitte Wilfing.
Musiker: Jorge Sánches-Chiong: Turntables; Alfredo Ovalles: Tasteninstrumente; David Christopher Panzl: Schlagwerk; Te-R: Neue Medien.
Tanz, Performance: Andrew Champlin, Mirjam Klebel, Brigitte Wilfing und sämtliche Musiker.
Choreografische Beratung: Sabina Holzer; Szenografie, Kostüm: Lise Lendais; Sounddesign: Florian Bogner; Lichtdesign: Jan Maria Lukas.
Uraufführung: 13.11.2021. Folgeaufführung: 14.11.2021 im Rahmen von Wien Modern.
Fotos: Markus Sepperer