Benjamin Britten: Death in Venice, Neue Oper Wien
Benjamin Brittens letzte Oper handelt von unterdrückten Gefühlen, vom Zwiespalt eines Menschen, der sich zwischen Kunst und Leben entscheiden muss, und vor allem vom Tod. Thomas Mann hat die Novelle „Der Tod in Venedig“ geschrieben, die von der Sehnsucht und dem Tod des erfundenen Dichters Gustav von Aschenbach handelt. Benjamin Britten hat das Libretto von Mylanwy Piper, der sich brav an Mann hält, vertont. Die Neue Oper Wien unter Walter Kobéra hat sie in einer Inszenierung von Christoph Zauner auf die Bühne gebracht. Am 7. Oktober war Premiere im Museumsquartier.
Es ist eine schwüle Geschichte, die sich da Thomas Mann ausgedacht, oder auch selbst erlebt, hat. Dem erfolgreichen Schriftsteller sind die Inspirationen ausgegangen, er fährt nach Venedig, um sich zu erholen und abzulenken und seine Schreibblockade zu beenden. Er wohnt am Lido im Nobelhotel, wo sich die haute Volée trifft, darunter ist auch eine polnische Mutter mit ihren drei Kindern, zwei Mädchen und einem Buben, ein wahrer Ephebe. Die Schöheinheit des unbekümmerten Adoleszenten versetzt Aschenbach in Verzückung. Er, der sein ganzes Leben der Arbeit gewidmet hat, erfährt auf einmal, dass es auch darüber hinaus etwas gibt, etwas, das er sich bis jetzt versagt hat. Nahezu willenlos gibt er sich dem Gefühlsrausch hin, bleibt dem jungen Tadzio zwar fern, ist aber von der Begierde (die in der aktuellen Aufführung der Oper Brittens mit Liebe verwechselt wird) zerrüttet. Mit einer Verjüngungskur – Farbe im Haar, Schminke im Gesicht –, macht er sich zum Clown und taumelt seinem frühen Ende entgegen.
Manns Novelle ist 1911 entstanden und ist thematisch ganz im Sinne der Décadence des Fin de Siècle geschrieben. Die Geschichte spricht auch heute noch das Publikum an, schließlich stehen zwei Mythen im Mittelpunkt, der einsame Dichter, keusch und sittenstreng, und die Lagunenstadt Venedig, immer schon am Abgrund balancierend, voll ungesunder Dämpfe und von Überschwemmungen bedroht. Im Roman und in der Oper wird auch noch von einer Colera-Epidemie gesprochen, also erlebt das Publikum auch eine direkte Verbindung in die gelebte Realität. Schließlich spielt auch der griechische Mythos von Apollo, dem lichten Gott der sittlichen Reinheit und der Mäßigung, und Dionysos, dem wilden Kerl, der ungezügelten Lebensfreude, aber auch Ekstase und Wahnsinn verkörpert. Der Jüngling Tadzio steht eindeutig noch auf der apollinischen Seite, doch ohne Eros ist die Schönheit vergebens. Deshalb muss Aschenbach, nachdem er sich in endlosen Secco-Rrezitativen (Britten greift damit auf Kompositionsformen des 17. und 18. Jahrhunderts zurück und Hauptdarsteller Alexander Kaimbacher ist wirklich beeindruckend in seinem Jammer) gewunden hat, sich dem Dionysos ergeben, sich seine Begierde eingestanden, aber nicht gewagt, sie zu auszuleben. Der Tod ist unausweichlich.
Luchino Visconti hat „Tod in Venedig“ 1971 verfilmt, auch er hält sich ganz an Thomas Mann. Wie es auch der große Choreograf John Neumeier tut, der 2003 das Ballett „Tod in Venedig“ geschaffen hat. Der blutjunge Ukrainer Edvin Revazov tanzte den Tadzio, so schön und betörend wie der Schwede Bjôrn Andrésen, den Visconti für die Rolle ausgesucht hatte. Brittens Oper ist zwei Jahre nach Viscontis Film uraufgeführt worden. Der Komponist konnte nicht selbst dirigieren, weil er sich endlich der längst fälligen Herzoperation unterziehen musste. Er ist 1976 verstorben. Dass er sich selbst in Aschenbach porträtiert hat und auch den eigenen Tod komponiert hat, ist die gängige Interpretation. Auch Neumeier tut dies, indem er seinen Aschenbach einen Choreografen sein lässt, bei Visconti ist er ein Komponist. Diese kleine Freiheit haben sich Britten und sein Librettist Piper nicht gegönnt.Christof Cremer hat die Kostüme und das Bühnenbild gestaltet. Das war nicht einfach, weil die Vorstellungen in der Halle E des Museumsquartiers stattfinden, die, mangels geeigneter Technik, für differenzierte oder wechselnde Bühnenmöblierung weniger geeignet ist. Cremer stellt erdfarbene Paneele und Stege auf, grauer Sand liegt darunter. Von Beginn an ist Aschenbach in ein düsteres Gefängnis gesperrt. Damit ist auch sein karges Innenleben visualisiert. Sein innerer Zustand bleibt auch so, selbst in Venedig scheint keine Sonne, ist das Leben weder heiter noch leicht. Sogar der Chor (Badegäste, Matrosen, Straßensänger und -sängerinnen) ist meist dunkel gekleidet. Doch es ist nicht wirklich klar, ob Aschenbach tatsächlich nach Venedig reist, nachdem ihm ein Unbekannter den Koffer in die Hand gedrückt und aufgefordert hat, die Sonne zu suchen. Vielleicht ist ohnehin alles nur Imagination, Aschenbach sitzt weiter in seiner Klause, träumt von Liebe und einem neuen Leben, das ständig vom Tod bedroht ist.
Dieser erscheint in unterschiedlichen Gestalten und wird von Bariton Andreas Jankowitsch virtuos dargestellt und gesungen. Er ist es, der mir Angst macht. Tenor Kaimbacher als Aschenbach zeigt eine Meisterleistung, nicht nur an Bühnenpräsenz. Von Anfang bis Ende ist er ständig anwesend, rezitiert seine Gedanken, skandiert innere Monologe kommuniziert nur wenig mit anderen, viel mehr mit sich selbst, ersetzt quasi den Erzähler. Gegen Ende gerät er ins Grimassieren, doch zwei Stunden (mit kurzer Pause) auf der Bühne zu agieren ist anstrengender, als zu sehen ist. Süß und betörend ist die Stimme des Apollo, die dem Countertenor Ray Chenez gehört. Für mich könnte diese Rolle durchaus größer sein. Ihm würde ich eher erliegen, als dem jungen Tänzer Rafaël Lesage. Da haben Choreografie und Inszenierung versagt. Er ist ein Teenager wie alle, latscht gelangweilt hinter den Schwestern her und verbiegt sich akrobatisch, doch wenig anmutig, wenn es um die Strandspiele geht, die Aschenbach (angeblich verzückt) betrachtet. Auch seinem Freund Jaschu, Luis River Arias, geht es nicht anders. Saskia Hölbling, eine renommierte Choreografin und Tänzerin, steht in der Besetzungsliste, doch sehe ich ihre Arbeit nicht. Ein Tanzpaar (Leonie Wahl, Ardan Hussain) agiert als Hilfspersonal, etwa als Ringrichterin / Ringrichter im Kampf von Tadzio und Jaschu. Einer Choreografie folgen auch diese nicht, trotz konvulsivischer Krämpfe.
Allmählich wird klar, dass ich mit der Inszenierung wenig anzufangen weiß. Die Badegesellschaft rennt über die Stege hin und zurück, als ob sie nicht wüssten, wohin sie wollte, auch wenn die Glocke zur Mahlzeit geläutet hat. Der Auftritt der Straßensänger ist weniger lustig oder erschreckend, eher aufgesetzt peinlich. Bleibt also Britten und das Tonkünstler-Orchester, dirigiert von Walter Kobéra, und der Wiener Kammerchor. Da passt alles, grübelnde Asketik und nahezu rauschhafte Sinnlichkeit. Das Schwüle, die Miasmen aus den Kanälen sind nicht gerade Brittens Anliegen. Erwähnt muss auch noch eine Selbstverständlichkeit werden, die es gar nicht immer ist: Die Sänger:innen artikulieren alle verständlich, auch wenn der Text auf Englisch ist. Dennoch ist die Übersetzung auf zwei gut sichtbaren Tafeln hilfreich. Das mitunter über die hintere Wand huschende Video, flatternde Möwen und Meereswellen, hingegen trägt nichts zum Verständnis oder dem visuellen Genuss bei. Nimmt man alles nur in allem: Der Weg ins Museumsquartier zahlt sich aus.
Neue Oper Wien
Benjamin Britten: „Death in Venice “. Libretto: Myfanwy Plper
Musikalische Leitung: Walter Kobéra; Inszenierung: Christph Zauner; Bühne und Kostüme: Christof Cremer; Choreografie Saskia Hölbling; Lichtdesign: Norbert Chmel; Video: Chris Ziegler; Klangregie: Christina Bauer; Chorleitung: Bernhard Jaretz.
Sänger: Alexander Kaimbacher, Andreas Jankowitsch, Ray Chenez. Darsteller: Rafaël Lesage, Luis Rivera Arias und viele andere Sänger, Sängerinnen, Darsteller:innen. Wiener Kammerchor, Tonkünstler-Orchester Niederösterreich.
Premiere: 7. Oktober 2021, Museumsquartier, Halle E.
Fotos © Armin Bardel