Meg Stuart / Damaged Goods: „Cascade“, ImPulsTanz
Immer wieder verschoben, ist „Cascade“, die jüngste Choreografie von Meg Stuart endlich als Uraufführung im Rahmen des ImPulsTanz Festivals zu sehen. Ein fulminantes Stück zur Zeit, über die Zeit, über Unsicherheit, Offenheit und Solidarität. Ein perfektes Zusammenspiel der bewegten Körper mit der Musik von Brendan Dougherty und dem Bühnen- und Lichtdesign von Philippe Quesne. Erwartungsgemäß ist die Uraufführung im Volkstheater am 17. Juli lautstark bejubelt worden.
Es ist ein unbekannter Ort, an den die sieben Tänzer:innen verschlagen werden. Sie kriechen über schwankende Berge, seilen sich aus schwindelnden Höhen ab und beginnen, jede(r) einzeln, den fremden Planeten zu erkunden. Mitten im Bühnenhintergrund hat Quesne eine weiße Sprungschanze gebaut, auf der die Tänzer:innen auf und ab klettern, rutschen, gleiten, kopfüber in den Abgrund rudern. Am linken Bühnenrand türmen sich die Wolken-Gebirge, weiche Polster, auf denen es keinen Halt gibt. Der Sternenhimmel-Vorhang, der die Hügel bedeckt, wird später die Bühne am Horizont einrahmen, wird sinken und sich wieder erheben, vielleicht ein Wechsel von Tag und Nacht.
Choreografin Stuart hat im Gespräch gemeint, dass sie diese coronabedingten Verschiebungen, den erzwungenen Stillstand und die Erkenntnis, dass wir aufeinander angewiesen sind, nahtlos in das Stück eingefügt hat.
Nichts ist sicher auf diesem Planeten, den die Besucher:innen allmählich erobern, der Boden schwankt, die Zukunft ist unbekannt, am Himmel hängen zwei Netze mit Steinen gefüllt, eine Bedrohung. Irgendwann erklettert ein Tänzer eines der Netze, nimmt darin Platz, und mir fällt ein, dass ich gerade erst die Hubschrauber gesehen habe, die vom Hochwasser Eingeschlossene an Seilen hochziehen. Die Tänzer:innen rollen und springen, schaukeln und rutschen, fliegen schräg in die Höhe und versuchen immer, die Balance zu halten. Umfallen und wieder aufzustehen, ist selbstverständlich. Daugherty hat teile seiner Komposition elektrisch voraufgezeichnet, am Schlagzeug treibt er mit starkem Beat und heftigem Rhythmus die Tänzer zu Höchstleistungen an. Bei aller Philosophie dahinter ist Meg Stuart eine wunderbar körperbetonte Choreografie gelungen, die genügend Freiraum für eigene Gedanken und Interpretationen lässt. Allein die vorherrschende Schräglage und der Versuch in Balance zu bleiben, sind in Zeiten der Pandemie bestens vertraut.
Nach einer Stunde aufregender Performance in wechselnden Fantasiekostümen ergibt sich ein explosionsartiger Schluss.
Der sich als Irrtum entpuppt, denn es wird lediglich die Zeit angehalten: Die Musik verstummt, die Tänzer:innen erstarren. Nichts geht weiter, nichts tut sich. Die Bewegungen sind minimalistisch, als ob die Besucher:innen des fremden Planeten, der ohnehin der alte im neuen Gewand zu sein scheint, auf der Suche nach etwas wären. Einem Ziel, einem Sinn, einer Aufgabe? Jedenfalls werden jetzt ausgiebig Banalitäten ins Mikro gesprochen, die Zeit dehnt sich. Ich brauche Geduld, die Uhr zeigt mir noch 30 Durchhalteminuten an. Wenn der Himmel sich rosa färbt, geht die Sonne wieder auf, die Musiker kehren zurück an ihre Batterie, und ein neuer Tag beginnt. Neues wird in diesem dritten Teil nicht mehr zu sehen sein, wird nicht mehr erfahren, Redundanz und Wiederholung, noch einmal eine Textflut, diesmal von einer Tänzerin gesprochen. Wenn Tänzer:innen unbedingt sprechen wollen, dann sollten sie dieses auch entsprechend trainieren. Ein Mikrofon vor dem Mund macht noch keinen verständlich gesprochenen Text. Immer improvisierter wirkt das Treiben auf der Bühne, immer fantastischer die Kostüme, schließlich bilden die Tänzer:innen ihren eigenen Musikzug, die beiden Live-Musiker unterstützen sie, indem sie sich ebenfalls auf der Bühne tummeln. Langsam rinnt das Stück aus, jeder verpasste Schluss schwächt dieses im Kern gelungene Stück, 105 Minuten sind einfach zu viel. Da braucht es die Tante Jolesch und ihr Rezept, immer zu wenig zu kochen, damit der Gusto auf mehr erhalten bleibt. Mit diesem Rezept wären Würze und Essenz von „Cascade“ unverdünnt erhalten geblieben. Ein rechtzeitiges Ende zu finden, fällt offenbar auch jenen schwer, die sich mit den Geheimnissen der Zeit auseinandersetzen.
„Cascade“, Choreografie: Meg Stuart. Von und mit: Pieter Ampe, Jayson Batut, Mor Demer, Davis Freeman, Márcio Kerber Canabarro, Renan Martins de Oliveira, Isabela Fernandes Santana.
Bühnenbild, Lichtdesign: Philippe Quesne. Dramaturgie: Igor Dobricic.
Komposition: Brendan Dougherty; Livemusik: Dougherty und Philipp Danzeisen.
Kostümbild: Aino Laberenz. Text: Tim Etchells / Damaged Goods. Uraufführung am 17. Juli 2021, Volkstheater im Rahmen des ImPulsTanz Festivals.
Fotos: © yako one. Probenbilder und Sujets: © Martin Argyroglo