Eszter Salamon: MONUMENT 0.6: HETEROCHRONIE
Mit ihren Monumenten will die Tänzerin und Choreografin Eszter Salamon eine Verbindung zwischen der Geschichte und dem Tanz herstellen, schließlich ist auch Tanz, ob auf der Bühne oder im Ballsaal, ein Teil der Geschichte. Im Monument 0.6 gedenkt Salamon mit ihrem Team der Mumien von Palermo, die im Kapuzinerkloster von Palermo im 16. Jahrhundert überraschend gefunden worden sind. Mit acht Tänzer:innen hat sie dieses, noch vor Corona entstandene Monument, bei den Festwochen gezeigt.
Eine Heterochronie, eine Verschiebung des natürlichen Verlaufs des menschlichen Körpers, die aufgehobene Verwesung, ist der Ursprung der Geschichte. „Heterochronie / Palermo 1599–1920“, schreibt die Choreografin auf ihr Monument. 1597 wollten die Kapuziner In Palermo Platz auf ihrem Friedhof schaffen und einige Leichen auf einen öffentlichen Friedhof verlagern. Zu ihrer Überraschung waren die Leichen mumifiziert. Sie wurden nicht noch einmal begraben, sondern entlang der Korridore in der Kapuzinergruft ausgestellt. Danach begann der Boom des Mumifizierens in Palermo. Die Leichen wurden ein Jahr lang auf schrägen Steinplatten ausgetrocknet. Die Organe wurden entfernt und die Körper mit Stroh oder Lorbeerblättern ausgestopft. Nach einem Jahr kamen die Mumien in ein Essigbad und wurden neu eingekleidet. Ab 1783 war die Praxis der natürlichen Mumifizierung allgemein üblich. Wer es sich leisten konnte, stellte die Hülle eines / einer Verstorbenen aus. Auch in den Katakomben der frommen Männer wurde die Klassenordnung streng eingehalten, Frauen und Kinder lagen am weitesten entfernt vom Heiligtum. 1880 wurde dem Trend ein Ende gesetzt, neue Hygienevorschriften verboten das öffentliche Ausstellen von mumifizierten Körpern. Nicht ganz plötzlich, erst 1920 wurde der letzte mumifizierte Körper der auf mehr als 1000 Mumien angewachsenen Sammlung beigefügt. Damit war der Tod aus aller Augen. Salamon erzählt keine Geschichten, sondern versetzt uns im fehlenden Licht in Grabesstimmung, träufelt später auch banale Texte in die Ohren des Publikums. Zu Beginn aber herrscht bedrückende Finsternis, auch das Notlicht ist abgedeckt, bald fühle ich mich in einer Gruft eingeschlossen. Endlich ist im Hintergrund ein fahler Schimmer zu sehen, unbewegliche Schatten tauchen auf, helles Gewand, verrenkte Gliedmaße und Hüften. Die acht Tänzer:innen sind als Mumien erkennbar. Sie bewegen sich so langsam und minimal, dass sie fast zwei Stunden benötigen, um nach vorne an die Rampe zu gelangen. Manchmal müssen sie sich ausruhen und sinken um, doch eigentlich ist ein Kippbild zu sehen, die Mumien scheinen nur zu stehen, dreht man das Bild um 90º, dann erkennt man, dass sie tatsächlich liegen. Ein Kapuzinermönch in Kutte und Kapuze schleicht umher und arrangiert die leblosen Körper neu, bildet Paare und Gruppen oder sortiert welche aus. Ein wenig kindisch das alles. Dazu wird gesummt und gesungen, Lieder und Arien aus vielen Jahrhunderten.
Nach einer Stunde befreie ich mich aus der Gefühlsfalle. Die Mumien rühren sich kaum, erstarren immer wieder zu Wachsfiguren, die Musik ist eintönig, die Texte bringen keine Erkenntnis, banal die rezitierte Lyrik. Am witzigsten sind Aufzählungen der Gebeine, die der Verwesung widerstehen. Dass auch an ertrunkene Bootsflüchtlinge erinnert, geht im oft nur geflüsterten englischen Text unter, weil einigen Zuschauern (echt jetzt, ich habe nur Männer gesehen) bereits der Kopf auf die Knie gefallen ist. Durch die Texte wird dem Publikum die Möglichkeit genommen, sich eigene Gedanken zum Tod zu machen.
Eindrucksvolle Monumente hat Eszter Salamon bereits aufgestellt, als Solistin oder mit einer Gruppe, und auch mit anderen Stücken ist sie in Wien (ImPulsTanz Festival und Tanzquartier) aufgetreten. Es kann nicht alles gelingen, wenn man die Absicht merkt, ist man verstimmt. Die Tänzer:innen leisten jedenfalls Großartiges, auf der Bühne wie ein Derwisch umher zu sausen, ist weniger Kunst als wie ein Zombie aus dem Wachsfigurenkabinett jede Bewegung so langsam zu machen, dass sie sich dem Auge der Zuschauenden entzieht. Doch dieses stillstehende Spektakel aufgestellter Mumien ist mit fast zwei Stunden zu lang, zumal es keine neue Erkenntnis über den Tod und auch das Leben bringt. Sogar in der Wiener Ruprechtskirche ist eine Mumie zu besichtigen. Im barocken Goldsarg soll der heilige Vitalis von Mailand ruhen.
„Monument 0.6: Heterochronie, Palermo
künstlerische Leitung, Choreografie Eszter Salamon. Mit Matteo Bambi, Mario Barrantes Espinoza, Krisztián Gergye, Domokos Kovács, Csilla Nagy, Olivier Normand, Ayşe Orhon, Corey Scott-Gilbert, Jessica Simet.
Musikalische Recherche: Eszter Salamon, Johanna Peine, Text: Elodie Perrin, Eszter Salamon, und ein Gedicht von Paul Éluard.
Musikalische Leitung, Arrangements: Ignacio Jarquin, Licht: Sylvie Garot, Ton: Marius Kirch, Felicitas Heck; Kostüm: Flavin Blanka;Bewegungscoach: Christine De Smedt. Uraufführung Dezember 2019, PACT Zollverein (Essen), Koproduktion mit Wiener Festwochen und vielen anderen. Vorstellungen in Wien: 11.,12.,13. Juli 2021, Wiener Festwochen im Museumsquartier.