Landestheater Salzburg: „Romeo & Julia“, Ballett
Noch vor dem ersten Lockdown konnte der Ballettdirektor am Salzburger Landestheater, Reginaldo Oliveira, seine neue Choreografie nach Shakespeares Drama „Romeo und Julia“ im Februar 2020 den Premierenapplaus des anwesenden Publikums genießen. Jetzt hat er mit seiner gut trainierten Compagnie das Ballett für die Netzbühne einstudiert und macht so seine Kreation auch einem Publikum außerhalb Salzburgs zugänglich. Die perfekte Aufzeichnung ist bis 6. April zugänglich.
An manchen Großmutter-Weisheiten muss doch etwas Wahres dran sein. Dass man jetzt bis 6. April Reginaldo Oliveiras Ballett „Romeo und Julia“ als Stream des Salzburger Landestheaters auch in Wien oder Agram sehen kann, ist so ein „Gutes im Schlechten“. Für eine Abendvorstellung nach Salzburg zu reisen ist zeitaufwändig und teuer, weil nach der Vorstellung kein Zug mehr zurückfährt und eine Übernachtung in der Festspielstadt doch ein zu hoher Preis ist, auch für eine genussreiche Aufführung. Auf dem großen Bildschirm des TV-Geräts ist die Aufführung dank des Produktionsteams (Bild und Ton: Leiter Thomas Oeser) vorbehaltlos zu erleben.
Oliveira hält sich an Shakespeares Dramaturgie, verdichtet jedoch den 2. und 3. Akt, verzichtet auf den Pater, der das Paar heimlich traut und Julia das den Scheintod bringende Gift übergibt. Die Verantwortung dafür lliegt in der Salzburger Choreografie auf den Schultern der Amme. Chigusa Fujiyoshi feiert in der Aufzeichnung ihr Rollendebüt als Amme und tanzt präzise und anmutig die bedingungslose Liebe, die diese für ihre Schutzbefohlene empfindet. Ein schöner Kontrast zur hochfahrenden und hartherzigen Mutter (Mikino Karube, ebenfalls ein Rollendebüt.)
Hinreißend verliebt ist das Paar Flavio Salamanka und Harriet Mills als Romeo und Julia. Oliveira erzählt von einer romantischen Liebe, verhehlt aber nicht, dass auch sexuelles Begehren die beiden antreibt. Vor allem Julia rekelt und dehnt die Gliedmaßen und spreizt in Erwartung ihres Verehrers einladend die Beine. Die berühmte Balkonszene wird in Salzburg zur Treppenszene, Romeo klettert über eine Mauer auf die in den blauen Himmel führenden Stufen. Bühnenbildner Sebastian Hannak stellt die Szenerie aller drei Akte in eine dreidimensionale Renaissance-Architektur, die er um 90 Grad kippt. Durch verschiebbare hintere Wände und Türen werden die Räume verkleinert und wieder vergrößert. Dennoch ist die Aufführung nicht in einer bestimmten Zeit angesetzt, auf dem Marktplatz tummeln sich junge Menschen von heute, blödeln und raufen die jungen Burschen und Mädchen, wie an den Ufern der Salzach oder des Donaukanals. Bis im zweiten Akt die Pöbeleien in hasserfüllten Kampf ausarten.
Tybalt (Klevis Neza, Rollendebüt), er allein vertritt die Familie Capulet, ersticht Mercutio (Iure de Castro) und die Gang der Montagues, junge Männer und auch Frauen, zwingt Romeo, sich zu rächen. Degen und Messer werden nicht benötigt, auch Blutlachen sind nicht notwendig, Romeo erwürgt Tybalt und allen steht der Schmerz ins Gesicht geschrieben. Das ist der Vorteil einer gelungenen Videoaufzeichnung, die Kamera kann so nah an die Protagonist*innen herangehen, wie es dem Publikum im Saal niemals möglich ist. Deshalb sind die Tänzerinnen (sowohl in Spitzenschuhen als auch barfuß) und Tänzer gezwungen, auch ihre Mimik mit einzubringen, und das tun alle, für mich besonders Fujiyoshi als Amme, hervorragend, zum Mitweinen.
Diese Marktszenen, in denen die beiden Gangs, unterschiedliche gesellschaftliche, ethnische, soziale Schichten, aufeinandertreffen, einander prügeln und auch töten, sind schlicht mitreißend. Tänzerinnen und Tänzer setzen in den akrobatischen Bewegungen ihre volle Energie ein und zeigen eine exakt strukturierte Kampfchoreografie. Erschreckend heutig, wie es nahezu täglich in vielen Städten der Welt zu erleben ist.
Oliveira hat ein tänzerisch anspruchsvolles Ballett geschaffen und die einzelnen Rollen bestens besetzt. Wenn er sich auch nicht ganz an Shakespeares Vorlage hält, wofür es auch keiner Notwendigkeit bedarf, der Stoff ist ohnehin älter als Shakespeare und frei verwendbar, so hält er sich genau an die Musik Sergej Prokofjews, die sämtliche Gefühlsnuancen von überbordender Lebenslust und jugendlichem Übermut über die unterschiedlichen Facetten der Liebe bis zu Schmerz und abgrundtiefer Trauer ausdrückt. Nicht gelungen ist dem Choreografen die Ballszene. Sie soll cool sein, ein fröhlicher Wirbel, in dem Julia sich ebenso amüsiert wie die ungeladen herantanzenden Montagues. Doch Prokofjew denkt bei der Ballszene an feierliches Schreiten, an einen würdevollen Tanz hochnäsiger, hohler Menschen, die ihren Reichtum vor sich hertragen, um sich besser als andere fühlen zu können. Das fröhliche Hüpfen, das Oliveira verlangt, widerspricht den Intentionen des Komponisten. So fällt auch die erste Begegnung Julias mit Romeo nicht besonders auf, da schlägt kein Blitz ein, erst danach, auf der bewölkten blauen Treppe verstehen die beiden, was da mit ihnen passiert ist.
Dass es in einer Aufzeichnung ohne Publikum keinen Applaus gibt, ist schade für die Ausübenden, doch ein Labsal für mich als Zuschauerin. Wenn zwei tote junge Menschen auf der Bühne liegen, sollte es schwer fallen zu paschen, bevor der Vorhang gefallen ist. Dass mich meine Ungeduld nicht frühzeitig aus dem Lehnstuhl gezwungen hat, ich mich durch nichts ablenken habe lassen und auch die kleinen Blackouts, in denen lediglich die Musik zu hören ist, nicht genützt habe, um das Wohnzimmertheater zu verlassen, spricht für die Qualität der Aufführung und der mit 17 Tänzer*innen recht kompakten Ballettcompagnie des Salzburger Landestheaters.
Reginaldo Oliveira: „Romeo und Julia“, Ballett zur Musik von Sergej Prokofjew.
Bühne: Sebastian Hannak, Kostüme: Judith Adam, Dramaturgie: Maren Zimmermann, Licht: Lukas Breitfuss, Leiter Bild und Ton: Thomas Oeser.
Tänzer*innen: KT. Flavio Salamanka, Harriet Mills, Mikino Karube, Chigusa Fujiyoshi, Paulo Muniz, Iure de Castro, Diego da Cunha, Klevis Neza, Lucas Leonardo, Karine de Matos und das Ensemble.
Probenfotos: © Maria Löffelberger, Admill Kuyler.
Uraufführung des Prokofjew-Balletts: 30. Dezember 1938 in Brünn. Premiere am Salzburger Landestheater: 22. Februar 2020.
Videoaufzeichnung vom 5. und 6. März 2021. Dauer der Onlinefassung: 1h 50 min. Zur Verfügung bis 6. April 2021.