Hungry Sharks / Young Sharks: 1.618, Kultursommer
Drei junge Tänzer und eine Tänzerin haben sich mit der Schönheit des Körpers in Bewegung auseinandergesetzt. Die Young Sharks sind die Nachwuchsformation der Company Hungry Sharks unter Valentin Alfery. Im Zelt auf der Zirkuswiese bringen Melissa Schuppe, Timo Bouter, Leon Bernhofer und Valentin Pezzei gemeinsam und mit Solos Leonardo da Vincis Vitruvianischen Menschen zum Tanzen. Der Titel, „1.618“, ist die irrationale Zahl in der Berechnung des Goldenen Schnitts.
Choreograf Alfery hat sich für die Sommerbühne Besonderes ausgedacht, er nimmt Leonardos idealen Menschen zum Ausgangspunkt, um Choreografie und urbanen Tanz als Streben nach Idealen, Scheitern und Perfektion darzustellen und zeigt, dass der Goldene Schnitt auch auf den Tanz angewendet werden kann. Tänzerin und Tänzer gehen, stehen, kreisen, drehen, wippen, heben die Arme, vermessen den Körper in Bewegung und den Bühnenraum. Anfangs ist das Schreiten, Beugen und Biegen vorsichtig, langsam, feinst ziseliert, später, wenn die Hip-Hop-Einlagen der Burschen die anwesenden Kinder zum Staunen bringen, bekommt die Vorstellung richtig Schwung. Melissa Schuppe zeigt mit gekonntem Hüftschwung, dass sie auch den Bauchtanz beherrscht, und wenn sich nach den Solos das Quartett wieder zusammenfindet, entsteht eine ausgewogene Geometrie.
So eindringlich ist der Tanz der Vier, dass sich die Regentropfen dem zärtlichen Tempo anpassen und niemand Lust hat, sich aus dem Liegestuhl zu erheben und wegzuschleichen.
Die Musik von Patrick Gutensohn, ein monotones Klingklang, das der Wind verweht, stört nicht wirklich. Sie dient manchmal als Rhythmusimpuls, tritt jedoch meistens in den Hintergrund, bald höre ich sie gar nicht mehr.
Der Titel des einprägsame 45 Minuten dauernden Stückes könnte auch Phi heißen. De irreale Zahl ϕ = 1,618… spielt bei der Berechnung des Goldenen Schnitts eine Rolle. Der Goldene Schnitt (die Teilung eines Ganzen in einem bestimmten Verhältnis) ist das Maß aller Schönheit und nicht die Renaissancekunst, auch – kein Schmäh – die Natur richtet sich danach. Die Blüten der Glockenblume, Akelei oder Heckenrose sind ebenso im Goldenen Schnitt gebaut wie der Seestern. Auch die Anordnung der Blätter und Blütenstände mancher Pflanzen sind im Verhältnis des Goldenen Schnitts angeordnet. Im 19. Jahrhundert meinte man, dieses Verhältnis (größerer Teil a verhält sich zum kleinerem Teil b wie das Ganze a + b zu a) auch auf den Menschen anwenden zu können und vermaß die Teile der Gliedmaßen (Unterschenkel : Oberschenkel etwa) und des Rumpfes, wobei der Nabel als Mittelpunkt angenommen worden ist. Dafür gibt es jedoch keine wissenschaftliche Grundlage, der Psychologe Adolf Zeising, der die These aufgestellt hat, hat wohl gemessen, was er sehen wollte. Der Neudruck seines 1854 erschienen Werkes: „Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers“ erfreut sich allerdings heute noch regen Interesses (Nachdruck im Vero Verlag).
Wieder zurück auf den Boden tänzerischer Tatsachen. Man muss in Wahrheit gar nichts wissen oder gar verstehen vom Goldenen Schnitt, um die Performance der Young Sharks zu genießen. Die Schönheit und Perfektion der Bewegung erschließt sich von selbst, ein Titel ist oft nur eine Banderole, die das Werk kennzeichnet, aber nicht beschreiben muss. 1.618 oder ϕ mag dem Choreografen und den Tänzern samt Tänzerin bei der Stückentwicklung gedient haben, für die Zuschauer*innen aller Altersstufen in ihren Liegestühlen muss er nicht von Relevanz sein. Sie spenden, trotz klammer Finger, warmen Applaus.
Young Sharks: „1.618“. Künstlerische Leitung, Choreografie: Valentin Alfery, künstlerische Beratung, Kostüm: Dušana Baltić; Musik: Patrick Gutensohn.
Tanz: Meiissa Schuppe, Timo Bouter, Leon Bernhofer, Valentin Pezzei.
Hungry Sharks im Rahmen von Kultursommer Wien, 2020.