Jean-Christophe Maillot: „Cendrillon“, Ballett
Cendrillon“, das Märchen vom Mädchen, das in der Asche schlafen muss und für Bescheidenheit und die Demütigungen einen Prinzen als Lohn bekommt, wird von Jean-Christophe Maillot mit anderen Schwerpunkten erzählt. Der Vater ist überraschend präsent und Cendrillon muss nicht in der Asche schlafen. Mit dem 1999 entstandenen Märchenballett zur Musik von Sergej Prokofiev feierten Les Ballets de Monte Carlo unter Direktor Maillot im Festspielhaus St. Pölten Triumphe.
So wirklich entscheiden konnte sich Maillot nicht, ob er eine psychologische Studie erzählen wollte oder doch eine Geschichte aus dem Märchenland. Während er den Gegensatz zwischen dem einfachen, um die verstorbene Mutter trauernden Mädchen und den Stiefschwestern samt ihrer Mutter, inmitten einer eher hirnlosen, eitlen Gesellschaft heraus arbeitet, kann er auf die Fee nicht verzichten. Allein schafft Cendrillon den Aufstieg auf den Thron nicht, die tote Mutter erscheint als stets hilfreiche Fee.
Dennoch gefällt Maillots Ballett, klar neoklassisch, eine Geschichte von heute, von einer genuss- und unterhaltungssüchtigen Gesellschaft, die nur mit sich selbst beschäftigt ist. Das einfache, natürliche Mädchen Cendrillon, das niemals vor dem Schminkspiegel steht und, in Erinnerung an die Mutter, im schlichten weißen Hemdchen auf dem Fest erscheint, kann mit diesen Hohlköpfen nichts anfangen, wird verlacht und gemobbt. Der Prinz hat offenbar eine Erleuchtung, denn er sieht sofort (vor allem während er der Unbekannten auf die Füße schaut), dass diese Fremde etwas Besonders ist.
Während die Damen alle auf Spitze tanzen, hat die Titelfigur gar keine Schuhe an, nicht einmal den im französichen Märchen so titelgebenden Glaspantoffel. Ihre Füße sind lediglich mit flüchtigem Goldstaub bedeckt. Zum Ball erscheint sie im weißen Hemdchen, eine Verbindung zum Lieblingskleid ihrer Mutter. Als Fee ist (die Erinnerung an) die Mutter ständig bei Cendrillon. Ganz verzichten will der Choreograf auf Märchenhaftes nicht, ist doch auch die Doppelrolle (Mutter /Fee) eine willkommene Herausforderung für jede Ballerina.
Einem schweren Unfall des Tänzers Jean-Christophe Maillot hat die Ballettwelt die Schöpfungen des Choreografen und Ballettdirektors Jean-Christophe Maillot zu verdanken. Der Solist in John Neumeiers Hamburg Ballett war noch keine 25, als er eine Karriere beenden musste, um eine andere zu beginnen. Seit 1983 ist er künstlerischer Direktor von Les Ballets de Monte Carlo und hat mehr als 40 Ballette geschaffen. Natürlich heißt seine Geschichte vom Aschenbrödel „Cendrillon“, denn mit der süßlichen Erzählung von Walt Disney hat Maillots Kreation nichts zu tun, wie ja auch das Märchen von einem Franzosen aufgeschrieben worden ist. Charles Perrault (1628–1703) hat „Cendrillon ou la Petite Pantoufle de verre“ aufgeschrieben, die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm haben sich gut 200 Jahre später für ihre Märchensammlung ausgiebig bei Perrault bedient. „Cinderella“ als unpassender Titel muss wohl der Marketingabteilung eingefallen sein, wie auch die Empfehlung ab 8. An den erotischen Verführungskünsten der Stiefmutter und ihrer beiden mannstollen Töchter wird das junge Publikum kaum die richtige Freude haben.
Maillot, ganz Neoklassiker, erzählt kein Märchen, auch wenn er auf die Perraultschen Accessoires, die von Mäusen gezogenen Kürbiskutsche und den gläsernen Schuh verzichtet und auch auf die weißen Täubchen, die die Brüder Grimm ihrer Heldin als Helfer beigegeben haben. Es ist eine Geschichte von heute, in der es auch um den Verlust eines geliebten Menschen geht und die Bewältigung der Trauer. Nicht nur Cendrillon, auch ihr Vater und die verstorbene Mutter stehen im Mittelpunkt. Während die Damen alle auf Spitze tanzen, hat die Titelfigur gar keine Schuhe an, die Füße sind lediglich mit flüchtigem Goldstaub bedeckt. Zum Ball erscheint sie im weißen Hemdchen, eine Verbindung zum Lieblingskleid ihrer Mutter.
Ernest Pignon-Ernest hat eine transportable Bühne gestaltet mit verschiebbaren bunten oder edel weißen Paravents, einer Treppe in der Mitte und Zerrspiegeln an den Seiten. Dadurch entstehen sehenswerte Bilder und interessante Effekte. Die Kostüme, mit aufgetürmten Frisuren für die noble Gesellschaft und aufregenden Corsagen für die drei Stiefdamen hat Jérôme Kaplan entworfen. Die Tänzer*innen der Ballets de Monte Carlo sind ausgezeichnet trainiert, sie springen und werfen die Beine in die Luft, doch zeigen sie stets die gleiche undurchdringliche Mimik. Der Prinz (Simone Tribuna) ist vom Fuß der plötzlich auftauchenden Ballbesucherin mehr begeistert, als von der Person. Die Mutter / Fee (April Ball) ist weniger Wesen aus einer anderen Welt, sondern eine recht menschliche, mitunter strenge Figur. Lediglich die Stiefmutter und ihre kessen Töchter (Marianna Barabas / Anissa Bruley, Anne-Laure Seillan) bringen etwas Leben in die perfekt abrollende Show. Beeindruckend ist der letzte Pas de deux, wenn die verstorbene Ehefrau dem Vater (Matèj Urban) erscheint, da kommt ein wenig Gefühl auf. Doch die Erinnerung an die Liebe und die Trauer um deren Verlust machen den Vater nicht sanft. Mit dem weißen Hemd seiner Tochter (oder seiner Frau?) will er die Neue erdrosseln. Im letzten Moment weist er sie fort. Auf der Treppe erscheint das glückliche Paar unter dem goldenen Regen. Ob der Prinz sich aus Liebe besonnen hat, dem hohlen Entertainment abschwört und mit seiner Cendrillon aufs Land zieht, bleibt offen.
Mit der bekannten und mit Leitmotiven für sämtiche Seelenzustände strukturierten Ballettmusik Sergej Prokofievs kann ein Choreograf fast nichts falsch machen. Von Rostislaw Sacharow, dem Choreografen der Uraufführung 1945 am Bolschoi Theater, bis zu Rudolf Nurejew in Paris und Thièrry Malandin an der Wiener Volksoper haben das ungezählte Choreografen bewiesen. So schenkt auch Maillots Choreographie noch nach 20 Jahren einen netten Abend mit einer ausgezeichneten Ballettcompagnie, die, wie am Ende zu hören ist, von Alt und Jung gefeiert wird.
Jean-Christophe Maillot: „Cendrillon“, Choreographie: Jean-Christophe Maillot; Musik: Sergej Prokofiev. Bühne: Ernest Pignon-Ernest; Kostüme: Jérôme Kaplan; Licht. Dominique Drillot. Les Ballets de Monte Carlo. Dirigent des Tonkünstler-Orchesters: Igor Dronov. Zwei Aufführungen am 5. und 6. Oktober 2019, Festspielhaus St. Pölten.
Fotos von Alice Blangero.