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Florentina Holzinger: „Tanz“ im Tanzquartier

Sylphiden oder Hexen in "Tanz"

Die Tänzerin und Choreografin Florentina Holzinger rundet, nach „Recovery“ und „Apollon“, mit „Tanz“ die Trilogie über den Körper als Spektakel ab. Getanzt wid dabei nicht, doch ein Spektakel ist es wohl, was da zwei Stunden lang im ausverkauften Tanzquartier / Halle G abrollt. Nackte Frauenkörper, die anfangs Sylphiden sein wollen, werden zu Hexen, die mit gewagter Akrobatik das Publikum in Staunen versetzen. Im ersten Akt widmen sich die zehn Darstellerinnen dem romantischen Ballet oder dem, was Holzinger sich darunter vorstellt, im zweiten rinnt Blut, künstliches und echtes.

Beatrice Cordua erteilt "Sylphic Studies", was immer das sein soll. An der Stange Renée Copraij. Holzinger, der seit 2011 das Epitheton „provokanteste Nachwuchschoreografin“ umhängt, lockt das Publikum in Scharen ins Tanzquartier. Nachwuchs ist sie allerdings nicht mehr, sondern eine international begehrte Choreografin. Die aktuelle Produktion ist eine Koproduktion renommierter Tanzhäuser von Berlin bis Brüssel, Antwerpen bis Utrecht. Die Erwartungen eines unterhaltungssüchtigen Publikums werden sicher in Frankfurt ebenso erfüllt wie in Düsseldorf. Auch die Kulturabteilung der Stadt Wien und das Bundeskanzleramt samt Geldgeber aus Arles und den Niederlanden haben gefördert. „Tanz“ ist eine aufwendige Produktion mit Motorrädern auf rotierenden Trapezen, umherfliegenden Gliedmaßen, unter dem Plafond schwebenden Frauen, denen die Halterung unter die Haut operiert worden ist. 

Zwei Akte, mehrere Szenen, deren Titel auf Videoscreens zu sehen sind, damit das Publikum auch weiß, was zu erwarten ist. Zu Beginn allerdings gähnende Langeweile: Gefährliche Akrobatik am fliegenden MotorradNackte Damen bemühen sich an der Stange, die Ballettmeisterin, im gleichen Kostüm, gerät in Entzücken über die „göttliche Schönheit“ ihrer Elevinnen, lehrt sie nicht nur Plié und Arabesque, sondern auch die Liebe. Je breiter die angehenden Sylphiden die Beine spreizen und die Hinterbacken recken, desto mehr gerät die Meisterin in Ekstase, legt sich nieder und lässt ihre Girls mit in der Grätsche über ihr Gesicht marschieren. Diese, auch das Glück der Masturbation lehrende Meisterin, ist Beatrice Cordua, die vor 47 Jahren bei der Uraufführung von John Neumeiers frühem Ballett „Le Sacre“ zur Musik von Igor Strawinsky, splitternackt über die Bühne getobt ist, was der bald 80jährigen das Avancement zur Solotänzerin und einigen Nachruhm eingebracht hat. Auch die Kraft und den Mut, immer weiter zu tanzen, meist nackt natürlich. Cordua schont sich nicht, ist im 2. Akt eine Königin der Willis („Gisèlle“) im räudigen schwarzen Pelz, die sich einer schwierigen Geburtsoperation unterziehen muss, weil sie eine Maus oder einen Wolf oder sonst ein grausliches kleines Tier im Leib hat. Das Kunstblut bleibt ihr bis zum Ende an der Haut.

DAuch Hexen stehen auf der Spitze, hängen am Seil, die Ballettmeisterin schläft im Pelz. urch die Szene schleicht eine Fotografin, die mit ihrer Live-Kamera körnige Haut zeigt und sonstige Unappetitlichkeiten, wie Operationen und Implantationen, einfängt, die dem Publikum in den hinteren Reihen versagt blieben, würden sie nicht auf den seitlichen Schirmen gezeigt, verglotzt man sich dabei, entgeht einem, was sich auf der Bühne tut, wo gerekelt und geekelt, geküsst und geschmatzt, gebissen, geliebt und Blut gesaugt wird. Die Fotografin hat sich in einen Wolf verwandelt, Werwolf ist sie nicht, denn ich sehe keinen Mond, höre kein Heulen. Keine Sorge, geheult wird in düsteren Pseudohorror-Szenen durch die Tonanlage zur Genüge, auch Finsternis senkt sich mitunter über die Bühne, ich verspüre keinen Horror,  Abscheu vielleicht und auch den bekannten Horror vacui, das Grauen vor der Leere dieser Freakshow.

Zwischen den beiden Akten erzählt die Choreografin unter Belästigung des Publikums (zum Gaudium des Restes), was sie über das romantische Ballett zu sagen hat. Dann wedeln die sylphidischen Hexen zur Musik von Adolph mit den Armen, weil sie glauben, Schwäne zu sein, doch das ist kein romantisches Ballett. Schmatzen und sauen im Geisterwald.Dennoch am Ende, also am Ende, das ich mir gewünscht hätte, erklingen tatsächlich ein paar Takte von P. I. Tschaikowsky, doch die Sylphiden sind da längst im See versunken, wie der unglückliche, weil untreue Prinz. Der aber ist gar nicht da, die Choreografie ist nur für Frauen aus allen Sparten der auf Körperausdruck und Bewegung konzentrierten darstellenden Kunst. Diese, vor allem die Akrobatinnen und Zirkusartistinnen, leisten Großartiges, und die Qual im Training kann nicht geringer sein, als die junger Ballettelevinnen. Vielleicht überschwemmt sie auch ein Glücksgefühl, wie Tänzer*innen berichten, wenn sie an den Haaren vom Boden gezogen werden und sich um sich selbst drehen. 32 Luft-Fouettés gingen sich mühelos aus.

Ob Zaubertrick oder masochistische Praxis kann ich nicht entscheiden, jedenfalls ist die schwebende durchbohrte Akrobatin kein angenehmer Anblick. Auf dem Programmzettel lese ich, dass „‘Tanz‘ die Frage nach dem Erbe des Tanzes aufwirft“ und die Frage „Wie versöhnt man sich mit dem Schönheitskult dieser Tradition.“ Wieso versöhnen? Gab es einen Konflikt? Wer gegen wen? Ich rate. Zwischen Brutalität, Grobheit, teils trashiger Unterhaltung und eher lächerlichen Parodien und der Präzision, der Ästhetik und Schönheit, ja Schönheit, des Balletts, ob romantisch oder klassisch, ob in Spitzenschuhen (die tragen Holzingers Tänzerinnen auch in manchen Szenen), in Socken, oder ohne alles. Das kunstvolle Sujet ist von Josefin Arnell. Ich behaupte, das ist schön. © Josefin Arnell.Das Ballett „Gisèlle“ von Théophile Gautier, inspiriert von einer Bemerkung Heinrich Heines, der von der slawischen Sage von den Willis, den Geisterfrauen, die um Mitternacht durch den Wald lichtern, um die Männer zu Tode zu tanzen, berichtet, ist radikaler als all das Blut, das in „Tanz“ vergossen wird. „Vermehrt Schönes!“ lautet der Werbespruch der untertützenden Ersten, die Sehnsucht danach ist ohnehin nicht zu zerstören. So wie es auch dem Ballett oder genauer, dem künstlerischen Bühnentanz, nicht schaden wird, wenn Unverstand mit "sylphic Studies" (Programzettel) ihn verarschen will. Ob da ein Trauma durch den dunklen Wald geistert?

Florentina Holzinger: „Tanz“, eine Sylphidische Träumerei in Stunts. Konzept, Performance, Choreografie: Florentina Holzinger: Performance von und mit: Renée Copraij, Beatrice Cordua, Evelyn Frantti, Lucifire, Annina Machaz, Netti Nūganen, Suzn Pasyon, Laura Stokes, Veronica Thompson, Lydia Darling. Videodesign, Livekamera: Josefin Arnell. Sounddesign, Livesound: Stefan Schneider. Lichtdesign, Technische Leitung: Anne Meeussen. Bühnendesign: Nicole Knezevic. Dramaturgie: Renée Copraij; Sara Ostertag. Coaching: Ghani Minne, Dave Tusk; Musikcoaching: Almut Lustig. Unterstützung: Stunts: Haeger Stung & Wireworks; Stuntinstruktor*innen: Stund Cloud GmbH (Leo Plan, Phong Giang, Sandra Barger). Produktionsleitung: Laura Andreß.
Aktuelle Fotos von Eva Würdinger.
Premiere: 3. Oktober 2019, Tanzquartier / Halle G. Weitere Vorstellungen: 5., 1., 12. Oktober 2019. Am 11. Oktober gibt Florentina Holzinger im Anschluss an die Vorstellung in einem Publikumsgespräch, moderiert von Kulturjournalistin Karin Cerny (profil), Auskunft über ihre künstlerischen Zugänge.