John Neumeier: „Illusionen – wie Schwanensee“
Immer wieder „Schwanensee“, immer wieder „Illusionen – wie Schwanensee“. John Neumeier hat diese Choreografie, in der „der König“ – inspiriert vom Leben und Sterben Ludwig II. von Bayern (1845–1886) – und seine Liebe für das Ballett „Schwanensee“ und auch Richard Wagner im Zentrum steht, 1976 für Hamburg geschaffen und immer wieder hervorgeholt und entstaubt. Die letzte Vorstellung in dieser Spielzeit am 1. Juni war die 16te – natürlich im ausverkauften Haus frenetisch beklatscht, mit Ovationen für die Solist*innen und Hochrufen für den Choreografen.
Nach den Erinnerungen des Königs an fröhliche Feste, an das Ballett mit der zierlichen Schwanenkönigin und dem von Neumeier inszenierten Einbruch in die „Wirklichkeit“, nämlich das Ende des Königs, den der Hof für wahnsinnig erklärt, gefangen nimmt und wegsperrt, stirbt der König in den Armen des „Mannes im Schatten“, ein Verfolger, Mahner, Tröster und Beschützer und endlich der ihn emporhebende Todesengel.
Simon Hewett leitetet das Philharmonische Staatsorchester Hamburg (Solo-Violine Konradin Seitzer) mit Feingefühl und Schwung. Es darf in Tschaikowskys Melodien geschwelgt werden, sich in den bunten Akten zu Galopp und Walzer mitreißen lassen.
Harmonisch tanzt das Corps der weißen Schwäne, die herausragenden Solist*innen – Alexandr Trusch (König Ludwig), Xue Lin (Schwanenkönigin), Madoka Sugai (Natalia), Patricia Friza (Königinmutter und Großer Schwan), David Rodriguez (Mann im Schatten), Karen Azatyan (Prinz Leopold) – werden vom Neumeier treu ergebenen Publikum mit Beifallsstürmen belohnt. Geschmunzelt werden darf über Florian Pohl, der in der Privatvorstellung für Ludwig nach dem Original von Lew Iwanow im himmelblauen Anzug Prinz Siegfried als Wagnerschen Kraftprotz tanzt. Den Pas de deux übernimmt jedoch Ludwig („der König“) selbst: Zuschauen kann er nicht, er muss diese Odette im Arm halten. Allein wegen ihres unnachahmlichen Port de bras muss auch Darstellerin Xue Lin umarmt werden. Wie Neumeier diese in manchen Passagen leicht komisch wirkende originale Choreografie (Marius Petipa und Lev Iwanow), mit der das Ballett zur Musik Peter Tschaikowskys nach der verpatzten ersten Fassung 1877 in Moskau und mehreren Inszenierungsversuchen außerhalb Russlands 1895 am Mariinski-Theater in St. Petersburg seinen Siegeszug um die Welt erst richtig begonnen hat, zu mehr als einem historisch interessanten Ereignis macht, den Zuschauern, einen recht fröhlichen mit bunten Jägern animierten Tanz am Schwanensee beschert, ist allein schon sehenswert.
Doch wie er die beiden Welten – die des Märchens, der Erinnerungen und Illusionen, und die der grausamen (auch historischen) Realität – verbindet und damit auch die Ballettwelt aus dem 19. Jahrhundert ins Heute führt, ist unnachahmlich aufregend und faszinierend. Immer wieder beweist Neumeier, dass er Geschichten erzählen kann, auch alte, aus gänzlich neuem Blickwinkel. Auf der Bühne tanzen keine starren Konstruktionen, leblose Puppen in perfekter Technik, sondern Menschen, die Wünsche, Träume und Begierden haben, enttäuscht werden und lernen müssen, loszulassen, zu verzeihen und das Leben zu akzeptieren, wie es ist. Ludwig verkörpert eines der Themen, das Neumeier immer wieder beschäftigt, lebt er doch selbst damit: den Zwiespalt zwischen Kunst und Alltag, zwischen Fantasie und Wirklichkeit, zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen und eigenen Neigungen.
Die Schwanensee-Choreografie von Neumeier nach Petipa und Iwanow wirkt durch die Verbindung mit der „Wirklichkeit“ wärmer, glaubhafter, weniger auf den reinen Tanz konzentriert (es ist überflüssig, immer wieder auf die exzellente Technik des gesamten Neumeierschen Corps de ballet hinzuweisen) denn auf den inneren Ausdruck, die Gefühle der Personen. Allein, dass Neumeier die Aufführung von „Schwanensee“ durch den anwesenden Ludwig und seine Verlobte Natalie, als solche deklariert, macht den Flügelschlag der anmutigen Vögel, die nach Lew Iwanow auch recht ungeschickt auf flachem Fuß tanzen dürfen, realistischer und wirklichkeitsnäher. Diese Schwanenkönigin, auch diese vier „kleinen Schwäne“, die zwei „großen“ sind menschliche Wesen, leidend und liebend.
Der Tanz am Schwanensee wird immer wieder getanzt werden, auch im 21. Jahrhundert, bereits historische Choreografien wie etwa die von Rudolf Nurejew für Wien und später auch für Paris, sind, nah besehen, erstarrt und überholt. Sie müssen bewahrt werden, aber ob sie noch gültig sind, wage ich zu bezweifeln. „Schwanensee“ ist ein Ballett der Verwandlungen, der Metamorphosen, Neumeier hat das verstanden und auf seine Weise gedeutet und eingeflochten. Auch vor dem Publikum wandelt sich das Geschehen immer wieder, blendet von der „Gegenwart“ in die Traumwelt der Illusion.
Zwar hat Neumeier seine „Illusionen“ auch schon vor bald 50 Jahren geschaffen, doch seine Präsenz als Intendant, Choreograf und Ballettmeister, die Auswahl der Protagonist*innen, die die Rollen jeweils mit ihren Emotionen und ihren Ausdrucksmöglichkeiten erfüllen, lassen mir dieses Ballettwerk jedes Mal von Neuem frisch und munter und ganz heutig erscheinen. Dieser Hilfeschrei Ludwigs, diese, von der ihm angedienten Braut Natalie so geschickt verkrafteten Demütigungen und Enttäuschungen, dieses fröhliche Richtfest, auf dem Handwerker als Akrobaten turnen und Kinder fröhlich und frech spielen und auch den quirligen Maskenball, wenn der Schattenmann als Schwarzer Clown mitten unter den weißen geheimnisvoll und bedrohlich auftritt, kann ich immer wieder sehen und sehe sie immer wieder neu. Genieße und lasse mich betören. Tschaikowskys Musik ist so tänzerisch, so schwerelos und gefühlvoll, dass sie jegliche Deutung und Doppeldeutigkeit aushält, sie bleibt doch der Angelpunkt, um den sich jeder Tanz dreht.
John Neumeier: „Illusionen – wie Schwanensee“, Musik: Peter I. Tschaikowsky; Choreografie und Inszenierung: John Neumeier; Choreografie der „Zweiten Erinnerung“ nach Lew Iwanow; Choreografie des Grand Pas de deux in der „Dritten Erinnerung nach Marius Petipa und Lew Iwanow. Bühnenbild und Kostüme: Jürgen Rose. Musikalische Leitung: Simon Hewett. Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Solo-Violine: Konradin Seitzer. 168. Vorstellung seit der Premiere am 2. Mai 1976. Mit: Alexandr Trusch, David Rodriguez, Karen Azatyan, Madoka Sugai, Patricia Friza, Xue Lin, dem Hamburg Ballett, Kinder aus der Ballettschule des Hamburg Ballett. 1. Juni 2019, Hamburg Ballett in der Staatsoper Hamburg.
Fotos: © Kiran West.