Schande! Die Lektüre des jüngsten literarischen Werks von Ulrike Edschmid, der Roman Die letzte Patientin, ist meine erste Begegnung mit der bekannten und auch preisgekrönten Autorin. Der nur 110 Seiten füllende Roman ist eine Trouvaille, ein Glücksfund für die bis jetzt unabsichtlich ignorante Leserin.
Haunted landscapes or the breathing out of earth ist das vierte Kapitel in der Serie über verwundete Landschaften. Bisher hat Bosse mit ihrem Team die Wunden der Erde vor allem dort gezeigt, wo sie entstanden sind: in der Landschaft. Jetzt, da Nebel und Wolken die Sonne verschlingen und den Aufenthalt draußen unangenehm machen, ist sie unter das Dach des Tanzquartier gezogen und hört dort auch die Erde atmen.
Die Landschaft (landscape) – Der Wald, der Strand, das Meer, Nebel wallen, Vulkane spucken. Auch die Natur hat die Landschaft verletzt, hat Narben hinterlassen, die Oberfläche verändert. Ein faszinierendes Video aus Indonesien an der hinteren Wand.
Das Publikum – sitzt im lockeren Kreis um den Erdmittelpunkt, wird selbst zur Landschaft, hört wie Regisseurin Bosse von den Wunden und Narben erzählt. Nicht nur der Mensch mit seinen Bohrmaschinen und Spitzhacken verändert Land und Meer, Wüste und Wald, auch die Natur selbst, Wind und Wetter erodieren und polieren die Landschaft. Nicht nur in Europa, auch in Afrika und Indonesien (bald werden in Claudia Bosses atmenden Landschaften im Tanzquartier Kuhglocken die Gamelanmusik ersetzen). Die Wesen in der Landschaft: Fünf Tänzerinnen in Jeans, mit bloßem Oberkörper bevölkern die Erde, umtanzen den Mittelpunkt. Häute aus braunem Latex liegen übereinander, sie könnten auch den gesamten, sich ständig verändernden Planeten symbolisieren. Jianan Qu, Carla Rihl, Marcela San Pedro, Lena Schattenberg und Irwan Ahmett sind Erdgeister und Nixen, sind der Atem der Erde, keuchen, fauchen, säuseln, schnappen nach Luft, wandern durch die Landschaft, malen Zeichen in den Himmel, tappen im Nebel. Kämpfen gegen unsichtbare Feinde, bohren sich unter die Erdkruste, die Latexhäute werden zu wärmenden Mänteln, sind schwere Last, Schutz und Schirm.HadHDie fünf Wesen in der Landschaft sind auch Demeter, die griechische Fruchtbarkeitsgöttin, sind ihre Tochter, die Kore, Töchterchen, gerufen wird, doch Persephone heißt. Dieses arme Mädchen Kore / Persephone ist eines der ersten MeToo-Opfer. Hades, der Totengott, hat sie in der Unterwelt eingesperrtt. Die Oberwelt, die von Demeter zum Blühen und Grünen gebracht werden soll, verwandelt sich in eine Wüste. Die Tränen der Mutter eignen sich nicht zum Gießen. Ich mach‘ es kurz: Zeus, der Obergott, mischt sich ein, Hades erscheint bei der Mediation, Kore / Persephone darf ein halbes Jahr oben leben, dann muss sie wieder hinab, die Erde geht schlafen. Claudia Bosse denkt an ihre Zeit im Kindergarten und lässt eine Tänzerin mit Ton spielen und griechische Göttinnen basteln.
Bosse zaubert durch das Niederreißen der vierten Wand, durch das Einbeziehen der Zuschauerinnen in die Bühnenlandschaft ein üppiges Bildertheater, in das jeder Einfall, jeder Effekt hineingepresst wird. Beschränkung und Reduktion zählen nicht zu den vielen Talenten der Claudia Bosse. Mit diesem Hang zur Endlosigkeit und Üppigkeit zerbröselt sie im Lauf von zwei Stunden ihre so präzise Choreografie, langweilt mit Wiederholungen und vielem bei ihr und bei anderen schon einmal Gesehenen. Was anfangs dicht war, wird flach, die Aussagekraft geht verloren, die Landschaft zieht sich zurück, verschwindet am Horizont. Nach 90 Minuten ist alles gesagt, alles gezeigt, alles gefühlt. Die Erde tut sich auf, die fünf Geister verschwinden darunter, verlassen die Landschaft, das Publikum rundum starrt ins Nichts. Ein effektvoller, eindrucksvoller, passender Schluss. Doch Applaus ist noch nicht angebracht, es fehlen noch 30 Minuten, die Coda. Aber die letzte Note ist längst verklungen, die Bilder sind verblasst und die Gedanken haben die Köpfe gefüllt. Ich fühle Mitleid mit den nimmermüden Protagonistinnen, die sich noch einmal aufraffen müssen, um eben dieses gar nicht so richtig aus der Installation gewachsene Schwanzerl anzuhängen.
Den schönen Schluss, wenn Gewitter und Sturm musikalisch lostoben, Wolken und Nebel sich als Video über die Landschaft legen und die Geister, Göttinnen, Erdmännchen und -frauen den Bodenbelag aufreißen und sich darunter verkriechen und Stroboskopblitze blenden bis die schwarze Nacht hereinbricht, dieses effektvolle Finale lasse ich mir nicht verwässern. Klammheimlich schleiche ich aus dem dämmrigen Raum.
Claudia Bosse: HAUNTED LANDSCAPES or the breathing out of earth, 25. – 26.10. 2024, Tanzquartier
Choreografie, Text, Raum, Objekte: Claudia Bosse
Performance: Marcela San Pedro, Lena Schattenberg, Carla Rihl, Jianan Qu, Irwan Ahmett, Claudia Bosse
Sound: Günther Auer; Dramaturgie: Adam Czirak, Krassimira Kruschkova; Kostüm: Julia Zastava ; Licht: Paul Grilj; Produktion, künstlerische Assistenz: Larry Meyer; Videoeinrichtung, Dokumentation: Markus Gradwohl; Technischer Support, Salzobjekt: Christopher Schulz; Produktionsassistenz: Ines Kaiser;
Pressebetreuung: Die Kulturproduktion; Kommunikation: Magdalena Knor
Fotos: © Eva Würdinger
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