Krumping, ein Ventil für Enttäuschung und Wut
Als der hilfreiche Kobold Rumpelstilzchen den versprochenen Lohn nicht bekommen hatte, musste er seine gesamte Enttäuschung aus dem Leib tanzen. Dabei stampfte er so heftig, dass der Boden brach und Rumpelstilzchen in der Erde versunken ist. Krump im Märchenland. Die Choreografin Maud Le Pladec hat den Krump, getanzt von der elfjährigen Adeline Kerry Cruz, als Introitus für ihr Stück Silent Legacy gewählt. Im Rahmen von ImPulsTanz ist der zweiteilige Abend dreimal im Museumsquartier / Halle G gezeigt wrden.
Silent Legacy / Stilles Vermächtnis hat im Juli 2022 im Festival d’Avignon Premiere gefeiert. Davor hat Choreografin Maud le Pladec die junge kanadische Krump-Tänzerin Adeline Kerry Cruz kennengelernt und sie gemeinsam mit ihrem Lehrer Jr Maddripp vor ihrer Choreografie für die Tänzerin Audrey Merilus auftreten lassen. Fünf Aufführungen waren ausverkauft, danach gings nach Orleans und Brüssel, 2023 eroberte das Team mit dem Krump-Wunderkind Paris, Barcelona und endlich auch Wien.
Das Wort Krump ist gebildet aus der Begriffsreihe Kingdom Radically Uplifted Mighty Praise gebildet. Der Versuch einer Übersetzung – Königreich Radikal Erhöht Mächtige Lobpreisung – scheitert, das kräftige Wort Krump wird zum abfälligen Krempl. Das passt aber gar nicht zu diesem nahezu geworfenen, gerissenen, überaus kräfteraubenden, rauen Tanzstil, der in den frühen 2000er Jahren in den Straßen von Los Angeles entstanden ist. Wie sämtliche Straßentänze ist auch Krump Protest und Kampf, zeigt Rebellion und Widerstand, presst die Wut über Unterdrückung, Missachtung und Gewalt aus dem Körper. Selbstermächtigung ist das Schlagwort, das auch Maud Le Pladec ihren Stücken zuordnet.
Ob das Mädchen Adeline Kerry, in Toronto geboren, das Rumpelstilken (so sagen die Französisch und Englisch sprechenden Kinder zu dem tanzenden Troll) kennt, ist nicht überliefert, doch ihre getanzte Wut ist nicht im Armenviertel entstanden. Dennoch, die emotionale und körperliche Kraft, die Heftigkeit der Bewegungen, die Adeline Kerry vermittelt, lassen an tief empfundene Gefühle denken. Chestops (das blitzartige Hochschnellen des Brustkorbs), Stomps (festes, wiederholtes Aufstampfen), und Armswings (wie Windräder schwingen die Arme hoch und im Kreis) und auch die Bewegungen auf dem Boden (Groundmoves) werden eher improvisiert als in streng vorgeschriebener und durchgeprobter Choreografie ausgeführt. Die Tänzerin ist dabei völlig entspannt und stellt trotz all der gezeigten Aggression eine freundliche Verbindung zum gespannten Publikum her. „Komm, steht auf! Ich brauche dich!“ ruft sie gegen Ende ihres Auftritts dem weltberühmten Krump-Tänzer, Lehrer und Animateur Jr Maddripp zu. Und er betritt die Bühne, zeigt seine Interpretation von Krump und lässt Adeline Kerry auf seiner Schulter tanzen.
Ein solches Spektakel, das die Kraft und den Mut über die Bühne hinaus in die Reihen trägt, gibt der nachfolgenden Choreografie, dem eigentlichen stillen Vermächtnis, nur wenig Chance. Die Choreografie von
Maud Le Pladec und der Tänzerin Audrey Merilus, die die Uraufführung in Avignon getanzt hat, wird in Wien von Siaska Chareyre, unter anderem bei SEAD ausgebildet, interpretiert. Von der Heftigkeit des Krumpings ist nichts zu spüren. Chareyre schwingt die Arme, kniet nieder, wandert vorwärts und schreitet rückwärts, verschwindet in den dunklen Kammern, die im Hintergrund zwischen den oft blinkenden Neonröhren entstehen, um bald danach wieder aufzutauchen.
Wie ist der Titel des Abends, Silent Legacy, zu interpretieren? Soll hier das Erbe von der Jüngeren, ihre Vitalität und Energie, der Älteren übergeben werden? Oder ist der Abend einfach verkehrt herum, wider jegliche Dramaturgie, die Spannung und Aufmerksamkeit des Publikums erhalten und steigern soll, aufgebaut?
Zwar stellen Bühnenbild und Lichtdesign von Éric Soyer und die Musik der französischen DJ Chloé Thévenin ein Bindeglied zwischen den beiden Frauen und ihrem Tanzstil her, doch der in aller Ruhe und Eleganz von Chareyre gezeigte nzweite Teil hat gegen den aufregenden Rumpelstilzchen-Tanz von Cruz und Jr Maddripp kaum eine Chance beim Publikum. Um die frische Lebendigkeit von Cruz mit nachhause zu nehmen, hätte ich mir gewünscht, den arrivierten Krump-Tänzer Jr Maddripp und die springlebendige Krump-Virtuosin nach dem Solo von Chareyre zu sehen.
Die Choreografin und Tänzerin Maud Le Pladec, geboren 1976, kann den Erfolg ihrer Arbeit nicht genießen. Sie ist Tanzdirektorin und Choreografin der Olympischen Sommerspiele in Paris und auch der am 28. August in der Stadt an der Seine beginnenden XVII. Paralympischen Sommerspiele. Ab 2025 übernimmt das Ballet de Lorraine in Nancy als Direktrice.
Maud Le Pladec feat. Jr Maddripp / CCNO, ImpulsTanz im Museumsquartier / Halle G, 30., 31.7., 1.8. 2024
Konzept, künstlerische Leitung und Choreografie: Maud Le Pladec feat. Jr Maddripp
Solo Adeline Kerry Cruz: Maud Le Pladec und Jr Maddripp
Solo Siaska Chareyre: Maud Le Pladec und Audrey Merilus
Performance: Adeline Kerry Cruz, Siaska Chareyre und Jr Maddripp
Musik: Chloé Thévenin; Kostüme: Christelle Kocher – KOCHÉ, Licht und Bühnenbild: Éric Soyer
Fotos: © César Vayssié