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Latente – Erkennen durch Berühren

„Latente“ noch ohne Publikum: Roter Nebel im Korridor.

Die Tänzerin / Choreografin Martina De Dominicis richtet in ihrer Performance Latente den Fokus auf den fünften Sinn, den Tastsinn, um vieles, was die Augen nicht sehen, ans Licht zu bringen. Was latent ist, kann man noch nicht sehen. In der Philosophie steht die Latenz für verborgene Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten, die den Augen verborgen bleiben, werden in Latente von De Dominicis gemeinsam mit der Tänzerin Magdalena Forster geweckt.

Der Komponist und Klangkünstler Manuel Riegler agiert auch im Tanzraum. Zum weiblichen Duo gesellt sich musizierend und tanzend der Klangkünstler Manuel Riegler. Im Projektraum des WuK hat das Ensemble mit weißen Vorhängen einen schmalen Gang geschaffen, in dem das performende Trio im rosa-orangen Licht von außen, umhüllt von Nebelschwaden, nahezu unbemerkt erscheint. Die Bewegungen der drei gekrümmt auf dem Boden entlanggleitenden Gestalten mit Händen und Fingern wirken wie Zeichen, sind kaum sichtbar, minuziös und subtil.  Die Atmosphäre ist angenehm, das vorsichtige Treiben auf dem Boden rätselhaft. Tanz im Nebel: Martina De Dominicis, Magdalena Forster. Latente ist ein intimes Schauspiel, in dem private und allgemeine Erinnerungen, Gefühle durch Berührung hervorgerufen werden. Manuel Riegler, der vor allem für die Musik zuständig ist, verschmilzt Alte Musik mit seiner Komposition, arbeitet nicht nur am Regler, sondern spielt auch auf der Flöte. „Latente“, eine intime Vorstellung mit Weihrauch und Choralmusik.Choräle erklingen und zauberhafter Sologesang enthebt die Zuschauerinnen der Alltagssorgen. Die beiden Tänzerinnen zeigen ein intensives Duett, akrobatisch und zärtlich. Sie trennen sich und vereinen sich wieder, um nie gesehene Figuren, komplizierten Konstruktionen ähnelnd, zu bilden.
Der sogenannte Projektraum im renovierten Anbau ist durch Säulen geteilt und aktuell zusätzlich durch weiße Vorhänge verkleinert. Die Tänzerin wird zur Säulenheiligen.Der zweite Raum wird erst am Ende geöffnet, wenn die Tänzerinnen Ministrantinnen gleich mit den Weihrauchfässern durch die Räume toben. Anfangs, wenn alles noch in ruhigen Bahnen läuft, könnte man sich in einem Kapitelsaal befinden, in dem sich im Mittelalter die Benediktinermönche täglich versammelt haben. 
Als ob ein Ritual vorbereitet wird, ölen die Tänzerinnen sich und einander die nackten Arme und andere unbedeckte Haut ein, die Weihrauchkörner werden angezündet, die Musik ist feierlich. Nun wird der letzte Vorhang geöffnet und die De Dominicis und Forster tanzen sich, die Weihrauchfässer schwingend, in Trance, rasen durch den dreigeteilten Raum, sodass das neugierige Publikum, das keine Geste, keinen Schritt möchte , kaum nachkommt. Ein Prolog im Korridor mit zarten, minimalen Bewegungen.
Diese dauernde Bewegung des Publikums stört die Konzentration, das Eintauchen in die dichte, feinst choreografierte Aufführung. Neu-gierig will die Menge mit Augen erfassen, was nicht zu sehen ist.
Der Tastsinn, die gegenseitige Berührung, das Angreifen von Skulpturen, gehört im 21. Jahrhundert nicht mehr zum allgemeinen Konsens. Und seit der Pandemie ist auch das Händeschütteln nicht mehr anzuraten. Zum Trost werden Kuschelkurse angeboten. Doch auf diese beziehen sich die Tänzerinnen keineswegs.

Martina De Dominicis: Latente, Uraufführung, 17.10.2024, WuK
Konzept, Choreografie: Martina De Dominicis
Performance: Martina De Dominicis, Magdalena Forster, Manuel Riegler
Komposition, Sound Design: Manuel Riegler
Kostüme: Sarah Sternat; Bühnenbild, Objekte: Sarah Sternat, Patrick Winkler
Fotos: Hanna Fasching
Zwei weitere Vorstellungen: 18., 19.10. 2024, WuK, Projektraum.