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Die Gemütlichkeit des Bären oder den Reiz des Bösen
Das wird spannend: Sharon Eyal, Damien Jalet, Crystal Pite, Hofesh Shechter, Bobbi Jene Smith, Sasha Waltz zeigen in der kommenden Saison, 2023/24, zeitgenössischen Tanz. Nein, ach nein, nicht in Wien. Sie alle und noch einige mehr zeigen ihre Werke in Sankt Pölten. Aktuell, aufregend, möglicherweise auch manche Erwartung enttäuschend. Das neue Programm des Wiener Staatsballetts wird kaum jemanden enttäuschen. Bequem darf man sich zurücklehnen und den warmen Regen genießen. Nichts stört, nichts regt auf, nichts regt an. Alte Meister, die das Ballett im 20. Jahrhundert geprägt und erneuert haben, die man immer wieder gerne sieht. Die jungen Meister:innen fehlen, um zu sehen, was die umtreibt, wende man sich gen Sankt Pölten.
Die Wiener Staatsoper ist als repräsentatives Repertoiretheater für Oper und Ballett mit umfassender Literatur zu führen. Ihre Stellung im Kreis der international führenden Häuser ist zu erhalten und weiter auszubauen. Beim Repertoire ist auf die Einbeziehung zeitgenössischer künstlerischer Ausdrucksformen Rücksicht zu nehmen. (Auszug aus dem Bundestheaterorganisationsgesetz)
Was die noch aktuelle und auch die kommende Saison gezeigt haben, werden da zwei Punkte nicht wirklich gut erfüllt: Die Stellung im Kreis international führender Häuser ist aufgrund von Trainingsmängeln in der Hitliste abgerutscht. Ausgebaut wurde sie sicher nicht. Und die zeitgenössischen Ausdrucksformen sind ziemlich rar.
Dass es sie gibt, zeigen die Gastkompanien und Choreograf:innen im Festspielhaus St. Pölten. Etwa mit Sharon Eyal, der ehemalige Tänzerin in der Batsheva Dance Company oder Damien Jalet, der einst mit Compagnien wie „Eastman (Sidi Larbi Cherkaoui), C de la B (Alain Platel) oder dem Ballett der Pariser Oper gearbeitet hat, die Stuttgarter Kompanie Gauthier Dance, Crystal Pite aus Kanada, die bei Forsythe im Ballett Frankfurt getanzt hat und für viele große Compagnien in Europa Choreografien geschaffen hat oder Bobbi Jene Smith, auch eine ehemalige Batsheva-Tänzerin, die erst in diesem Jahr ein Ballett für die Pariser Oper geschaffen hat.
Meine Bewunderung für den Künstler Martin Schläpfer, einen der wichtigsten Choreografen der heutigen Tanzwelt, ist wohlbekannt. Die Ergebnisse seiner Arbeit könnten aber auch wirtschaftlich klarer nicht sein. Das Ballett liegt an der Wiener Staatsoper in dieser Saison bei einer Auslastung von 99 Prozent mit entsprechenden kaufmännischen Resultaten. (O-Ton Bogdan Roščić)
Es mag an mir liegen, dass ich Direktor Roščić noch nie in einer Ballettaufführung gesehen habe, doch würde er sonst die Qualität einer Ballettaufführung an den Auslastungszahlen messen. Die werden auch in der nächsten Saison stimmen, ist doch auch das neue Programm überaus Publikums-kompatibel, regt nicht auf und auch nicht an.
Namen großer Meister, wirklich allergrößter Meister sind zu finden, doch es sind nicht die Meister von heute, es sind alte Meister. Michel Fokine, George Balanchine, Hans van Manen, John Neumeier, William Forsythe. Das Wiener Staatsballett hat sie alle im Körper, von allen finden sich genügend Werke im Repertoire.
Der älteste aller alten Meister ist Michel Fokine (in einigen Publikationen der Staatsoper auch Michail und auch Fokin genannt), der 1880 geboren ist. Die Wiener Compagnie hat eine Menge seiner wunderbaren Choreografien gezeigt. Auch „Les Sylphides“ zur Musik von Frédéric Chopin, orchestriert von Alexander Glasunow, war bereits an der Staatsoper zu sehen, mehr als 40 Mal von 1956 bis 1974. Es sind wichtige Choreografien aber sie immer von neuem zu wiederholen, hat nur dann etwas mit der so gern zitierten "Weitergabe des Feuers" zu tun, wenn die aktuellen Flammen auch sichtbar werden. Und auch die verehrten Erneuerer des Tanzes haben nicht nur Meisterwerke geschaffen. Apropos Balanchine. Ein Weihnachtsgeschenk an das tanzaffine Publikum machte es 1927 mit einem 23-jährigen russischen Tänzer und Choreografen mit georgischen Wurzeln bekannt. Star war der junge Mann damals noch keiner, diese Rolle hatte an den drei Abenden in Wien Léonide Massine. Je zwei Choreografien wurden von ihm beim „Gastspiel des russischen Balletts Serge Diaghileff“ gezeigt. An den ersten beiden Abenden war "La Chatte" / "Die Katze", die Choreografie von George Balanchine, dazwischen geklemmt. Die Musik hatte der 26-jährige Franzose Henri Sauguet für Les Ballets Russes (mit diesem Namen ist Diaghilews Truppe in die Geschichte eingegangen) komponiert. Am dritten Abend: Wieder Massine mit zwei Choreografien und in der Mitte Bronislava Nijinska in ihrem Ballett „Les Biches“, plotlos, feministisch, zur gleichnamigen Musik von Francis Poulenc. Da wären wir doch gerne Mäuschen gewesen. Überhaupt, Diaghilew! Der Impresario hatte Mut, war bereit zum Risiko, hat die heute noch geschätzten Choreografien zu zeitgenössischer Musik ermöglicht und nicht nur für den Tanz, sondern auch für das Libretto, die Bühne und die Kostüme Spitzenkünstler engagiert. Nur wenig ist erhalten und, ich verhehle es nicht, manches heute vermutlich nur noch unter dem Label „historisch“ zu genießen.
Der Meister der Ballettrekonstruktion ist auch nicht mehr da. Der nimmermüde französische Tänzer und Choreograf Pierre Lacotte ist kürzlich, wenige Tage nach seinem 91. Geburtstag, am 10. April, verstorben. Ein glücklicher Zufall: In der kommenden Saison wird das Staatsballett in der Volksoper Lacottes für Wien unter Manuel Legris einstudierte Version des „Mädchens mit den Emaille-Augen“, also „Coppélia“, tanzen. Die 10 Vorstellungen ab 7. Oktober 2023 sollten ihm gewidmet werden.
Noch nie von der Compagnie getanztle wurde eine Choreografie der Amerikanerin Karolem Armitage. Doch sie drückt den Altersdurchschnitt der Meister, die in der kommenden Saison die Ballettcompagnie volens oder auch nolens, weil Trusts und Erben über sie entscheiden, bewegen, erheblich. Er beträgt, ohne die bereits verstorbenen Choreografen zu zählen, 78. Die gleiche Übung für das Programm 2023/24 im Festspielhaus St. Pölten ergibt 48.
Das Festspielhaus bietet so nebenbei sogar auch den nötigen Unterricht in der Ballettgeschichte, dem sich Martin Schläpfer so ganz hingibt, weil das Gewohnte so angenehm beruhigend und bequem konsumierbar ist. Wenn nicht alle Vergleiche hinken würden, vergliche ich das Programm des Staatsballetts gerne mit der Krimiautorin Donna Leon, die viele mögen, aber niemanden aufregt oder gar anstrengt. John Irving hingegen, mit auch nicht mehr jungem Körper, aber beweglichem Gehirn, verlangt, diese grauen Zellen auf Trab zu bringen, mitzudenken und eigene Schlüsse zu ziehen. Zur Verteidigung des Fehlens von Überraschung und Mut, Herausforderung und Risiko (nicht für das Publikum, auch für die Tänzer und Tänzerinnen) höre ich bereits das Argument des Generationenwechsels. Die Jugend soll die Ballettgeschichte kennenlernen. Gut so. Aber soll die Jugend auf den Rängen und das Alter im Parkett nichts Unbekanntes, Gewagtes, ja vielleicht Bedrohliches kennenlernen? Wer ein Theater betritt, ist doch neugierig, will aufgewühlt und gefordert werden und nicht sanft entschlummern.
Noch einmal nach Sankt Pölten geblickt. Auch im Festspielhaus unter der künstlerischen Direktion von Bettina Masuch ehrt man die alten Meister, die im 20. Jahrhundert tänzerische Meilensteine geschaffen haben: Balanchine, van Manen und Forsythe werden im März 2024 vom Ballett am Rhein verkörpert. Das Programm im Festspielhaus St. Pölten ist also keineswegs eintönig, es macht aufmerksam, gespannt, schaulustig und gibt wenig Chance, sich gemütlich zurückzulehnen oder schnell nach den neuesten E-Nachrichten zu schielen.
Überraschung: Auch im Festspielhaus St. Pölten ist eine Choreografie von Marco Goecke zu sehen. Eric Gauthier hat sieben Topchoreograf:innen eingeladen, je ein abscheuliches Laster durch Tanz auszudrücken. Es geht um die sieben Todsünden (The Seven Sins), die Künstler:innen aller Genres seit dem Mittelalter inspirieren. Goecke hat sich die Völlerei ausgesucht, die natürlich nicht (nur) aus Fressen besteht. Sidi Larbi Cherkaoui ist mit „seiner“ Sünde direkt am Puls der Zeit: Er widmet sich der Gier, die gerade dabei ist, die Welt zugrunde zu richten. Hofesh Schechter (Wollust), Sharon Eyal (Neid), Sasha Waltz (Zorn), Marcos Morau (Hochmut) und Aszure Barton (Faulheit) vervollständigen das Septett. Gauthier Dance: "The Seven Sins" ist am 6. Oktober im Festspielhaus St. Pölten zu sehen.
In der Staatsoper setzt Goecke im dreiteiligen Abend, genannt „Im siebten Himmel“ (anstatt Klartext: „Schläpfer, Goecke, Balanchine“) ein Glanzlicht. Im Frühjahr 2024 ist sei für das Staatsballett geschaffene Ballett „Fly Paper Bird“ noch viermal zu sehen. Jedes Mal ein neues Erlebnis!
Das Wiener Staatsballett in der Staatsoper und Volksoper, Saison 2023/24.
Festspielhaus St. Pölten, zeitgenössischer Tanz und Circus in der Saison 2023/24
ceterum censeo. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das Ballett eine eigene Website bekommen sollte.