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Stimmen aus dem Inneren der Erde
Claudia Bosse nimmt sich viel vor. Immer. Vieles und nichts Gewöhnliches. Die kommende Großproduktion Haunted Landscape(s) macht da keine Ausnahme. Mit 30 Performerinnen komponiert sie an begehbaren Orten aus Bildern, Körpern, Klängen, Bewegungen, Texten, Mythen und Ritualen eine Serie von Aufführungen, deren Premiere am 8. Mai draußen in der Seestadt stattfindet.
Gewöhnliches Theater im Guckkasten, mit fünf Akten, einem Höhepunkt und einer Auflösung sind Claudia Bosses Anliegen nicht. Sie zieht theatrale Installationen vor, sucht die passenden Orte, unter Dach oder unter freiem Himmel, und ist bildende Künstlerin ebenso wie Choreografin oder Regisseurin. Die gesamte Fülle an Poesie und Kritik, Erzählung und Theatralik fließt auch in ihr jüngstes Vorhaben ein, eine Reihe von Interventionen, Choreografien, Performances und Installationen in der Landschaft.
Der Titel der Serie, Haunted Landscape(s) ist mehrdeutig. To haunt steht ebenso für Spuken wie für Verfolgen, für Quälen wie für Festhalten. Und das haunted house ist sowohl Gespensterhaus wie Geisterbahn. Die Landschaften, natürliche und künstliche, blühende Natur, verwilderte G’stetten, aufgegraben, zubetoniert, überschwemmt, ausgetrocknet, sind in permanentem Wandel und gleichzeitig ein Archiv aus Schichten von tausenden Jahren. Berge und Täler, Gletscher und Seen speichern die Wechsel der Zeiten und des Klimas, horten die Abdrücke der Lebewesen, die sich in ihr bewegen oder sie bearbeiten, die minimalen und die gewaltigen Transformationen und auch die globalen Auswirkungen. Für Bosse ist dieser Planet Lebensraum vieler Wesen, nicht nur der menschlichen, verwundet, vernarbt, voller Risse. Und auch voller Mythen, Sagen und Legenden. Nicht nur die griechische Mythologie interessiert sie, sondern auch außereuropäische Mythen, das Rohe und das Gekochte. Wenn sie an die Veränderungen in der Landschaft denkt, fällt ihr auch die griechische Persephone ein, die griechische Göttin der Unterwelt, die zugleich auch die Göttin der Fruchtbarkeit ist. Hades, der Gott der Toten und ihrer Welt tief in der Erde, hat die Tochter von Zeus und Demeter entführt und in der Unterwelt festgehalten. Die Erde oben verödete, alles Leben starb. Erst nach langen Verhandlungen stimmte Hades zu, Persephone nur ein halbes Jahr unten zu halten und den Rest der Zeit nach oben zu ihrer Mutter zu entlassen. Es ward wieder Frühling, die Erde belebte sich von Neuem, bis Persephone wieder unter die Erde muss, dann verkriechen sich Tiere, sterben die Pflanzen, es wird Winter.
Und dann fällt ihr auch Salzgitter ein, ihre Geburtsstadt. Knochenstücke von Mammuts, Rentieren und Neandertalern beweisen, dass die Landschaft in der breiten lössbedeckten Mulde schon früh besiedelt war, doch die Stadt Salzgitter ist erst 1942 gegründet worden. Die in der Region lagernden riesigen Eisenerzvorkommen waren schon um Christi Geburt bekannt, die Germanen verhütteten das Erz in sogenannten Rennöfen. Die Nationalsozialisten gründeten zur Ausbeutung der Erzvorkommen die Reichswerke Hermann Göring. An Erinnerungen an Veränderungen, Verletzungen und Narben der Landschaft in Niedersachsen mangelt es nicht.
Doch Bosse hat nicht die Absicht, aus ihrer Kindheit zu erzählen oder als Protest gegen Ausbeutung in der Landschaft zu kleben. Wie auch immer, sie macht Theater, großes Theater, Minimalismus und Kargheit sind nicht mehr gefragt. Sie erzählt mit sämtlichen theatralen, musikalischen und installativen Mitteln von gefährdeten Landschaften und Mythologien. Die ersten vier Vorstellungen der wandernden Serie finden im Brachland der Seestadt statt, von dort aus können die Teilnehmenden (Zuschauerinnen sind bei Claudia Bosse immer auch Teilnehmende, gedanklich und mitunter auch körperlich) auf den durch einen Hotelbau verunzierten Kahlenberg blicken. Auch die Gier kann der Landschaft weh tun.
Die Vorstellung verspricht zum Ereignis zu werden, so riesig ist die Zahl der Auftretenden: Tänzerinnen („furios“ nennt sie Bosse), der indonesische Künstler Irwan Ahmett, diverse Bewegungschöre, live Sounds von Günther Auer, Stimmen und Geräusche aus dem Inneren der Erde, Texte von Heiner Müller (aus dem hinreißenden Prosastück Herakles 2 oder die Hydra, 1972) + Gedanken von Claudia Bosse.
die Landschaft
sich gleichzeitig entzieht und präsent ist
ist eine Ansammlung von Faktoren, die sie schaffen
ist eine Überlagerung von Zeiten
die Landschaft
ist viele Landschaften sie waren vorher
und sie werden es noch werden […] (Claudia Bosse)
Claudia Bosse: haunted landscape/s, eine begehbare Komposition aus Bildern, Körpern, Klängen, Bewegungen. Premiere: 8. Mai 2024, auf dem Brachland vor und in den Seestadt-Studios, Am-Ostrom-Park 11.
Weitere Termine: 10., 11., 12. Mai 2024.
haunted landscape/s setzt sich Mitte Juni im Wald am Kärntner Wörthersee fort und findet seinen vorläufigen Abschluss Ende Oktober auf der Bühne des Tanzquartier Wien.
Fotos: © Markus Gradwohl