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Ballett: Die neuen Schwäne haben nackte Beine

Vor der Premiere: Im Vordergrund Tene Ward, die ihre Meinung frei äußert.

Ein Traum ganz in Weiß: weißes Tutu, weiße Schleier, weiße Federn, Flügel, Lilien, alles weiß, weiß auch die Schuhe und die Strümpfe. Muss das so sein? Im Ballett Schwanensee? In Giselle oder Die Bajadere? War immer so! Nur so wollen es alle sehen. Alle? Farbige Tänzerinnen fühlen sich nicht wohl. Choreografin Karen Kain zeigt, dass es auch anders geht, ganz anders. Die Dokumentation Swan Song erzählt von dem Abenteuer. als die Schwäne ohne Strümpfe getanzt haben.

Die blutjunge Karen Kain als Schwanenkönigin. © Videoausschnitt „Swan Song“Karen Kain, die Ballettikone Kanadas, deren Bild als Briefmarke durch die Welt geschickt wird, hat sich zwar als Tänzerin schon längst von ihrem Publikum verabschiedet, doch dem Ballett ist sie treu geblieben. Mehr als 20 Jahre hat sie als künstlerische Direktorin das National Ballet of Canada gelietet. Vor zwei Jahren hat die 70-Jährige auch als Ballettchefin ihren Schwanengesang vorgetragen. Die Tänzerin und Direktorin Karen Kain ist zur Choreografin mutiert und hat zum ersten Mal ein Ballett inszeniert. Jenes, das am Anfang ihrer Karriere gestanden ist, als sie mit knapp 20 Jahren für eine verletzte Kollegin als Schwanenkönigin im Ballett Schwanensee einspringen durfte. Karen Kain mit Rudolf Nurejew. © Videoausschnitt „Swan Song“Zum Abschluss eines 50 Jahre währenden Lebens für das und mit dem Ballett hat sie selbst eine Choreografie von Schwanensee geschaffen. Das kanadische Fernsehen, CBC (Canadian Broadcasting Corporation) wollte zum Abschluss dieser Ballettkarriere einen Film mit Kain im Zentrum drehen. Doch Kains Schwanengesang kam dazwischen. Das corps de ballet probiert mit nackten Beinen für die Premiere von „Schwanensee“.. © Videoausschnitt „Swan Song“Als Direktorin war sie zwar zurückgetreten, als Choreografin hatte sie gerade erst begonnen. Und so trat auch die Karriere der Karen Kain zurück, ließ den jungen Tänzer:innen und den vielen Problemen, die nicht nur durch die Pandemie entstanden sind, den Vortritt. Die Dokumentation Swan Song erzählt von einem anderen Schwanensee und feierte im September mit Karen Kain beim diesjährigen Toronto International Film Festival seine Premiere. Immer noch gern gesehen: Blanc de blanc im sogenannten Schattenakt im Ballett „La Bayadère" . © wikipedia Das ballet blanc, die weißen Schwäne, Wilis und Tempeltänzerinnen sind die Höhepunkte im russischen und frühen französischen Balletts des 19. Jahrhunderts. Die Regeln stehen fest, als wären sie in Stein gemeißelt. Doch die Steine liegen wie die sogenannte Ästhetik, die so gerne angeführt wird, in den Köpfen der Zuschauer:innen und auch des Teams auf der Bühne. Vielerlei Gründe werden angeführt, damit Weiß, und zwar vollständig von der Nasenspitze bis zu den Zehen, auch Weiß bleibt. Die Tänzerin Shaelynn Estrada beboachtet in ihrer Pause die Kolleginnen im Ballettsaal. © Videoausschnitt „Swan Song“Selbst, wenn heute in allen große Compagnien Tänzer:innen unterschiedlicher Kulturkreise und aus allen Ecken der Welt kommend, engagiert sind, werden vielerlei Gründe angeführt, warum vor allem die Schwäne weiß bleiben müssen. Auch Tänzerinnen, deren Hautfarbe nicht käseweiß ist, müssen weiße Beine in weißen Schuhen zeigen. Mitunter wird auch verlangt, das Gesicht mit weißer Paste einzuschmieren. Vorbehalte gegen eine Veränderung oder auch gegen die Beibehaltung der alten Gewohnheiten gibt es diesseits und jenseits des Vorhangs. Die Primaballerina Olga Spessiwzewa (auch Spessiva) als Schwanenkönigin, 1934.  Die Ikone des romantischen / klassischen Spitzentanzes hat als „Giselle“  Ballettgeschichte geschrieben. Sie ist 1991 mit 96 Jahren in Valley Cottage, New York, gestorben. © gemeinfrei / wikipediaAls Choreografin hat das auch Karen Kain erfahren. Als sie 2019 begonnen hat, mit jungen Tänzerinnen in Kanadas Nationalballett Schwanensee zu inszenieren, sind in der Gruppe mit Tänzerinnen unterschiedlicher Hautfarbe die Themen rund um Rassismus und Kolonialismus recht schnell aufs Tapet gehievt worden. Entzündet hatte sich die Diskussion an den weißen Strumpfhosen, die mitunter auch hautfarben (rosa) sein dürfen, doch nur, wenn die Hautfarbe weiß ist. Einige der Tänzerinnen wollten ihre Hautfarbe nicht verbergen. Die Darstellerinnen der Schwäne haben nackte Arme, die sie anmutig wie Flügel bewegen sollen. Dunkle Arme und weiße Beine? Eine sonderbare Ästhetik.  Lange Diskussionen, furchtsame, verschüchterte Tänzerinnen, selbstbewusste, emanzipierte Tänzerinnen und die Choreografin im Zwiespalt. Das Corps de ballet probt „Schwanensee“. Auch ohne Strumpfhosen werden die Schwäne das Publikum bezaubern. © Videoausschnitt „Swan Song“Die Schwierigkeiten potenzierten sich, weil bald nach den ersten Proben auch in Toronto ein Lockdown angeordnet worden ist. Die Gruppe sollte, wollte proben, durfte aber nicht. Dann entstand der Vorschlag, die Beine doch wie die Arme ohne Strumpfhosen zu zeigen und die Schuhe in individueller Hautfarbe zu kolorieren. „Wie wird das gehen, wir schwitzen, die Schenkel werden zusammenkleben“, fürchteten manche. Ein Glücksfall für den Fotografen: Eine Tänzerin bereits im Premierenkostüm. © Quelle Shady Hanna / Feature TIFF  „Swan Song“Skepsis, Unsicherheit und Sorgen schlugen sich nicht nur im Körper nieder, auch die Psyche der jungen, so leicht verletzbaren Tänzerinnen war betroffen. Doch schließlich siegte das Tanzfeuer, der Wille, auf der Bühne zu stehen, sich im donnernden Applaus zu verbeugen. Mit nackten Beinen und Spitzenschuhen in ihrer individuellen Hautfarbe. Der gewohnte Anblick: Die Schwanenarme sind nackt, die Beine stecken in weißen Strümpfen. Unlogisch und bei genauem Hinsehen auch komisch. Quelle: https://supermotointercup.at/Das alles ist in Swan Song zu sehen. Nicht nur die Chefin kommt zu Wort , auch die Tänzerinnen werden gehört, sie reden frei. Und am Ende der Uraufführung von Schwanensee, Choreografie von Karen Kain, donnerte der Applaus, garniert mit Jubelrufen, im Four Seasons Centre von Toronto lauter als erwartet.  Der Beweis ist erbracht. Die Schwäne, Wilis und Sylphiden müssen nicht marmorweiß sein, sie dürfen, wie Karen Kain sagt, „sein, wie sie sind, sie dürfen ihre Individualität behalten.“Karen Kain beobachtet mit dem Choreografen und Assistenten Robert Binet die Proben zu ihrer ersten Choreografie. © Videoausschnitt „Swan Song“.
32 Ballerinen schweben auf die Bühne, heben die Armen, strecken die Beine, beugen die Köpfe, sind Schwäne. Schwanenmädchen, die nicht eine wie andere, als weiße Wolke zum Träumen anregen, sondern verzauberte Mädchen, tanzende Individuen, nicht gleichgeschaltet, sondern jede einzigartig. Ihre Körper sind ungleich jenen aus dem 19. Jahrhundert, ihre Pliés und Ports de bras ebenfalls, anders und doch zauberhaft schön.

ARTE TV: Swan Song: Ein neuer Schwanensee, eine Dokumentation der Probenarbeit von Karen Kain zum Ballett Schwanensee und ihre eigene Karriere. Von Beginn an hat der Choreograf Robert Binet die Arbeit begleitet und unterstützt.
Regie: Chelsea McMullan. Eine Visitor Media Produktion in Koproduktion mit ZDF / ARTE
96 Min, deutsche Untertitel. Verfügbar bis 30.5.2027.
© ZDF an Ugly Duckling Media Inc. Production 2023