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Drei Meister, drei Werke, fast drei Stunden
Eine Ballettpremiere mit Choreografien von Hans van Manen, William Forsythe und George Balanchine. Hans van Manen hat Concertante zur Musik von Frank Martin 1994 für das Nederlands Dans Theater II geschaffen; William Forsythes Tanzstück In the Middle, Somewhat Elevated ist 1987 im Auftrag Rudolf Nurejews für die Pariser Ballettcompagnie entstanden; George Balanchines Brahms-Schönberg Quartet hat 1966 mit dem NYCB seine Uraufführung erlebt. Die Wiener Premiere dieser drei Ballette, unter dem Titel Shifting Symmetries im Programm, hat am 23. Dezember in der Staatsoper stattgefunden.
Ausnahmsweise ein Vorwort:
Seit es Kritik über Bühnenaufführungen gibt, wird sie von betroffenen Künstler:innen mit Unbehagen betrachtet, sofern sie ungünstig ausfällt. Doch Kritik, aus dem griechischen Wort kritikē – unterscheiden, trennen –, übernommen, bedeutet ursprünglich lediglich Beurteilung. Heute hat der Begriff einen negativen Beigeschmack. Doch die tanzschrift-Rubrik kritisch gesehen meint lediglich, genau betrachtet und beurteilt. Dass Bemängelungen, Beanstandungen, aufgezeigte Versäumnisse nicht gern gelesen werden und mitunter auch geahndet werden, ist wohl eine Begleiterscheinung der in einer Demokratie gesicherten freien Meinungsäußerung. Doch nun leben wir im Zeitalter der Cancel-Culture, zu der (oder richtiger: gegen die) der Philosoph Julian Nida-Rümelin einiges zu sagen hat:
Demokratie ist diejenige Staats- und Lebensform, die auf der kollektiven Selbstbestimmung der Freien und Gleichen beruht und politische Urteilskraft voraussetzt. Urteilskraft kann sich jedoch nur entfalten, wenn Gründe und Gegengründe angstfrei vorgebracht und abgewogen werden können. (Zitiert aus www.sprachblog.at von Robert Sedlaczek)
Fakten jedoch sind unantastbar.
Natürlich sind alle drei Choreografen in Wien bestens bekannt. Schon 1967 hat das Opernballett ein Werk von Balanchine gezeigt: Rudolf Nurejew hat die Titelrolle in Apollo getanzt. Ballettdirektor war Waclaw Orlikowsky. Direktor Aurel von Milloss nahm 1964 Die vier Temperamente ins Repertoire auf. Bis 1997 hat sich das Ballett als Teil eines dreiteiligen Abends auf der Bühne gehalten. Balanchines Brahms-Schönberg Quartet ist neu Im Repertoire. Arnold Schönberg hat das Klavierquartett g-Moll op. 25 von Johannes Brahms orchestriert. Nach der Uraufführung im New York-State-Theatre im Lincoln Center waren die Kritiken waren keineswegs berauschend. Wie im aktuellen Opernring, dem Monatsmagazin der Wiener Staatsoper, zu lesen ist, ist das Ballett schon zweimal nach der Uraufführung in neuem Design gezeigt worden. Die Pariser Compagnie tanzte in einer Ausstattung von Karl Lagerfeld, in Hamburg hat Karl Tröger das Bühnenbild entworfen und Judanna Lynn die Kostüme. In Wien ist Brahms-Schönberg Quartet ebenfalls im neuen Gewand zu sehen. Thomas Ziegler hat das Schloss des Urbühnenbilds umgedreht und zeigt es goldglitzernd, von hinten. Vera Richter kleidet die Damen und Herren in jedem Satz in neue Roben. Auch Hans van Manens Ballette begleiten Wiener Tanzaffine schon lange. Der legendäre Ballettdirektor, Gerhard Brunner, hat die Compagnie 1977 mit Adagio Hammerklavier bekannt gemacht. Gemeinsam mit Cacti von Alexander Ekman und Bella figura von Jiři Kylián war das Ballett für drei Paare zum letzten Mal zu sehen. Die Ausschnitte aus Choreografien von van Manen, die bei Galaaufführungen, vor allem der Nurejew-Gala von Manuel Legris, aufgeführt worden sind, nicht mitgerechnet, sind an die 10 Werke von Hans van Manen im Repertoire, nun kommt ein weiteres dazu. In der Premiere waren Liudmila Konovalova mit Marcos Menha, Aleksandra Liashenko mit Géraud Wielick, Iliana Chivarova mit Lourenço Ferreira und Alisha Brach mit Andrés Garcia Torres zu sehen.
Umrahmt von Concertante und Brahms-Schönberg Quartet ist in diesen Shifting Symmetries William Forsythes Werk In the Middle, Somewhat Elevated zu sehen. Drei Herren (Davide Dato, Brendan Saye, Arne Vandervelde) und sechs Damen (Hyo-Jung Kang, Kiyoka Hashimoto; Sonia Dvořák, Gaia Fredianelli, Sveva Gargiulo, Eszter Ledán ) bewegen sich zu den elektronischen Klängen von Thom Willams. Anders als bei van Manen, der auch auf der Bühne Menschen sehen will und Wert darauflegt, dass die Paare einander ansehen, eine Beziehung tanzen, und auch bei Balanchine, für den die Ballerina im Zentrum steht, die Männer wie im klassischen Ballett als Hebekräne dienen oder überhaupt nicht auftreten, sind für Forsythe Tänzerinnen und Tänzer gleichberechtigt, arbeiten wie Maschinen, ohne eine Beziehung miteinander zu kommunizieren. Als Nurejew Forsythe um ein Ballett für das Pariser Ensemble bat, hatte er bereits die Protagonist:innen im Auge: Sylvie Guillem, Laurent Hilaire, Isabelle Guérin und Manuel Legris,
"die beeindruckende Generation, die Nurejew aus dem Corps de ballet herausholte und zu Stars machte. Man nannte sie seine chouchou, aber Forsythe bezeichnet sie heute als Wunderkinder – junge Tänzer, die alles tun konnten, was man von ihnen verlangte.“ (übersetzt aus The Guardian).
Als Legris, der mit 22 Jahren von Nurejew zum Étoile ernannt worden ist, 2010 als Ballettdirektor in Wien angetreten ist, hat er schon in seiner ersten Saison ein Ballett von Forsythe angesetzt. Doch nicht jenes, in dem er als Étoile in Paris debütiert hat, sondern The Vertiginous Thrill of Exactitude, 1996 in Stuttgart uraufgeführt. 2013 hat Legris den dreiteiligen Abend Ballett Hommage mit einer Uraufführung von Natalia Horecna, Ètudes von Harald Lander und The Second Detail von Forsythe angesetzt. Entstanden ist dieses Ballett 1991, wieder zu den elektronischen Klängen von Thom Williams. 2019 folgte Artifact Suite ins Repertire des Wiener Staatsballetts, aufgeführt gemeinsam mit Trois Gnosiennes von Hans van Manen und Psalmensymphonie von Jiři Kylián.
Ein letztes Faktum: Der Abend ist lang und anstrengend, vor allem für die Tänzer:innen. Sie haben ihr Bestes gegeben. Zu vermelden sind ausßerdem Rollendebüts für alle Tänzer:innen und ein Hausdebüt für denn Dirigenten Matthew Rowe.
Shifting Symmetries, Choreografie: Hans van Manen, William Forsythe, George Balanchine.
Hans van Manen: Concertante. Pause.
William Forsythe: In the Middle, Somewhat Elevated. Pause. George Balanchine: Brahms-Schönberg Quartet.
Wiener Staatsballett in der Staatsoper; Orchester der Wiener Staatsoper, geleitet von Matthew Rowe.
Premiere: 23. Dezember 2023. Folgevorstellungen: 27., 29.12.2023; 2., 4., 5.1.2024.
Am 27. Dezember ist der Abend ab 19 Uhr live als Stream zu betrachten.
Fotos: © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor.
Zusatz bei Fotos der Balanchine-Choreografie: © Balanchine Trust
Ceterum censeo.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das Wiener Staatsballett eine eigene Website bekommen sollte.