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Wiener Festwochen 2020 mit reichem Tanzprogramm

"Lavagem" von Alice Ripoll mit Cia REC. © Renato Mangolin

Am 15. Mai beginnen die Wiener Festwochen, wie üblich auf dem Rathausplatz um 21 Uhr. Das Motto: „Beethoven gehört allen!“ Das Programm – 46 Produktionen, davon 15 Weltpremieren, mit 546 Künstler*innen aus 24 Ländern an 28 Spielorten – bietet bis 21. Juni Theater, Musik, Bildende Kunst, Performance und Tanz in reicher Auswahl. Im Burgtheater halten am 16.5. bereits am Nachmittag die indigene Aktivistin und Schauspielerin Kay Sara und der Theatermacher Milo Rau die Eröffnungsrede. „Against Integration“ wird in Tukano, einer Sprachfamilie Südamerikas, gehalten, deutsche und englische Übertitel helfen dem Verständnis. Der Eintritt ist frei, Anmeldung ab 4. Mai.

Über sämtliche Veranstaltungen gibt das 150 Seiten starke Programmbuch Information und Auskunft. Mein Augenmerk gilt Tanz und Performance, wobei ich mich natürlich an den Pressetext halten muss, die Redakteur*innen wissen, worüber sie erzählen.
Besonders erfreulich ist, dass Intendant Christoph Slagmuylder mit seinem Team auch heimische Künstler als festivaltauglich einstuft. Michikatzu Matsune sinniert übe „Mitsouko & Mitsuko“. © Elsa OkazakiDiesmal sind es zwei, 2021 hoffentlich vier. Der österreichische Choreograf, Tänzer und bildende Künstler Philipp Gehmacher erarbeitet gemeinsam mit der Tänzerin Roni Katz und den Tänzern Martin Hansen, Andrew Hardwidge und Andrius Mulokas ein Oxymoron: „The slowest Urgency“. Mit Text und Bewegung werden Fragen nach Aktualität und Dringlichkeit und deren Notwendigkeit aufgeworfen. Längst eingewienert ist der japanische Künstler Michikazu Matsune, doch für sein aktuelles Solo hat er sich mit zwei Frauen aus Japan beschäftigt, der Romanfigur Mitsouko Yorisaka und der realen Mitsuko Coudenhove-Kalergi, Großmutter der Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi. In „Mitsouko & Mitsuko“ spannt der Performer einen Bogen zwischen Geschichte und Fiktion und erzählt auf Englisch, Deutsch und Japanisch Allgemeines und Persönliches, Wahres und Erdachtes.

Sechs Tänzerinnen bewegen sich in einer in Gold getauchten Landschaft. Maria Hassabi lädt mit „Times“ zu einer Live-Installation mit sechs Tnzer*innen in den Hauptraum der Secession. Keyfoto zu "Times" von Maria Hassabi.  © Thomas PoravasHassabis choreografische Sprache fokussiert sich auf Stillstand, Langsamkeit und dem Dazwischen von Körpern und Bewegung. In "Times" der Zeit zu entfliehen, innezuhalten, ist für Besucher*innen bis 21. Juni von Dienstag bis Sonntag acht Stunden in der Secession möglich. 
Entspannend wird "Galileo" von Bruguera kaum sein. Die Performerin, Aktivistin und bildende Künstlerin aus Kuba sucht nach einer Entscheidung: Soll sie eine tapfere Heldin sein oder dumm und feige? Was immer man tut, auch andere sind davon betroffen, niemand hat völlige Kontrolle über die eigenen Gesten. Die kubanische Künstlerin Tania Bruguera zeigt als Weltpremire: "Galileo" © Carlos SpottornoBruguera nennt ihre Performances eine „nützliche Kunst“, Repräsentation ist nicht ihr Anliegen, vielmehr will sie einen reflexiven und emotionalen Erfahrungsraum schaffen.

Marlene Monteiro-Freitas, Stammgast der Wiener Festwochen, kommt mit ihrem Ensemble und Schauspieler*innen der Münchener Kammerspiele ins Akademietheater, um im Feld des Bösen, dieses göttlichen Rausches, zu tanzen: „Mal – Embriaguez Divina“ wird drei Mal gezeigt.

Mit ihrer Performance „Black Privilege“ thematisiert die aus Kapstadt stammende Choreografin und Aktivistin Mamela Nyamza „strukturelle Ungleichheiten und Privilegien". „Black Privilege“ ist Ritual und Gerichtsfahren, in dem die Tänzerin auf einem zwei Meter hohen Thron sitzt und abgelehnte und verkannte Heldinnen des afrikanischen Unabhängigkeitskampfes wiederbelebt, richtet und feiert.Das 6. Monument zeigt die Choreografin und Performerin Eszter Salamon mit einem neunköpfigen Ensemble „Monument 0.6: Heterochronie / Palermo 1599–1920". A-capella-Chor in "Monument 0.6" von Eszter Salamon. © Dirk RoseMit A-capella-Liedern verbindet sie Vergangenheit und Gegenwart, Tod und Leben. 2018 war Eszter Salamon wieder einmal in Wien und hat im Rahmen des ImPulsTanz Festivals im mumok „Momento 0.3 – the Valeska Gert Museum“ gezeigt. Die Wiener Festwochen erwarten das Publikum an drei Abenden im Museumsquartier / Halle G. Vier Mal tanzt Anne Teresa De Keersmaeker ihr neues Solo zu Johann Sebastian Bachs „Goldberg Variationen“ im Theater an der Wien. Pavel Kolesnikov ist ihr Partner am Klavier.

„Bailarina gorda – Fettballerina“ nennt sich selbst die junge brasilianische Tänzerin Jussara Belchior. An „Peso Bruto / Bruttogewicht“ wird auch ihre Kollegin aus Österreich, Doris Uhlich, ihre Freude haben. Die Festwochenredaktion warnt: „Dieses Stück beinhaltet Nacktheit“, als ob Performancebesucherinnen das nicht schon gewöhnt wären! Wie Belchior tritt auch Alice Ripoll mit ihrer Compagnie REC im neu entdeckten Spielort, einer ehemaligen Seifenfabrik in Meidling, auf. Perfekt gewählt, denn die in Rio de Janeiro geborene Choreografin erzählt vom Säubern und Waschen, und vom rassistischen Klischee, schwarze Haut mit Schmutz zu assoziieren. In der ehemaligen Seifenfabrik treten Tänzer*innen auf, die in den Favelas geboren sind. Ironisches Aperçu zur Performance „Lavagem / Waschen“: "Waschen" in der ehemaligen Seifenfabrik: "Lavagem" von Alice Ripoll. © Renato Mangolin Viele Mütter der Künstler*innen arbeiten als Reinigungskräfte in den Vierteln der Oberschicht des gespaltenen Brasilien. Mit dem beeindruckenden Auftragswerk „aCORdo“ waren Alice Ripoll / Cia REC bereits 2019 Gäste der Wiener Festwochen.

Die Halbzeit ist überschritten, im Programmbuch öffne ich die Seite 88 und begegne der marokkanischen Tänzerin Bouchra Ouizguen, die nicht nur mich schon im Vorjahr begeistert hat. Die überwältigende Show „Corbeaux / Krähen“ wurde von 12 marokkanischen Frauen im Freien aufgeführt. Für die heuer beim Kunstenfestival von Brüssel uraufgeführte Tanzshow, „Éléphant ou le Temps suspendu / Der Elefant oder die angehaltene Zeit“, arbeitet Ouizguen wieder mit einem Frauenchor ihrer Compagnie O, die sie mit professionellen Tänzern konfrontiert. Sie beschreibt ihre Kreation selbst: „Klang und Musik nehmen an dieser geträumten Mythologie teil, indem sie auf magische Weise zeitliche Räume beschwören, die oft unwiederbringlich verschwinden. Lieder und Musik aus dem marokkanischen Volksrepertoire, die von einem Chor aus den Tiefen der Jahrhunderte wiederbelebt werden.“ Dreimal im magischen Raum des Odeons.
„Sad Sam“ darf nicht Englisch gelesen werden, sondern kroatisch, uW. Forsythe: "A Quiet Evening". ©  Bill Cooper nd da bedeuten die Wörter „Hier bin ich“. Matija Ferlin begibt sich mit „Sad Sam, Matthäus“ in die J. S. Bachs „Matthäuspassion“ hinein und erlaubt seinem Körper die Begegnung mit dem bekannten Oratorium aus dem 18. Jahrhundert. Mit präzisen Bewegungen reizt er die Doppelbedeutung des Begriffs „Passion“ – Leiden und Leidenschaft – aus.

Ob nach diesen drei Stunden noch genügend Kraft für William Forsythes „ruhigen Tanzabend“ bleibt? „A quiet Evening of Dance“ darf mit Fug und Recht als „last not least“ dekoriert werden, gehört Forsythe doch ohne Zweifel zu den wichtigsten Choreografen der vergangenen 40 Jahre. Seit der Schließung der „Forsythe Company“, zieht er es vor, zu unterrichten, choreografiert nur noch selten. Noch ein Blick auf "A Quiet Evening". ©  Bill Cooper Daher ist es eine Überraschung, dass er für den „ruhigen Abend“ sieben seiner ehemaligen Mitarbeiter wieder vereint und mit „A quiet Evening of Dance“ ein „Stück von außergewöhnlich kluger Schönheit“ zustande gebracht hat, wie The Guardian schreibt. Dabei ist auch B-Boy Rauf »RubberLegz« Yasit, der sich nahtlos in das Ensemble einfügt, hat er doch öfter schon mit Forsythe zusammengearbeitet. Insgesamt sind an diesem Abend fünf Duette und Gruppenstücke zu sehen. Die Uraufführung hat im Oktober 2018 im Sadler’s Wells Theatre stattgefunden. Die allerletzte Vorstellung gibt der Schweizer Regisseur Boris Nikitin in Zusammenarbeit mit der Choreografin Lee Méir und dem Kukuruz (Klavier-)Quartett. Mamela Nyamza, zwei Meter über dem Publikum in "Black Privilege". © Chris de Beer Der Titel – „24 Bilder pro Sekunde“ – erinnert an Jean Cocteaus Dictum: „Filme machen bedeutet, dem Menschen in 24 Bildern pro Sekunde beim Sterben zuzuschauen.“ Sechs Tänzer*innen, vier Pianist*innen samt ihren Instrumenten und Videobilder ergeben ein bewegtes und bewegendes Tanztheater. 100 Minuten in der Halle G.

Mit „Last Time, This Time, Next Time“, einem „diskursiven, musikalischen, performativen Programm“ beschließt Intendant Slagmuylder am 20.6. an der Neuen Donau (USUS am Wasser) das Wiener Festival der darstellenden und bildenden Kunst. Ob es am 20. Juni regnen wird oder die Sonne scheint, nach dem Programm wird zur Party geladen werden. Beginn um 13 Uhr bei freiem Eintritt. Das von Julia Grillmayr ko-kuratierte Programm wird ab Mai bekannt gegeben.

Wiener Festwochen, 15. Mai bis 21. Juni 2020. Eine Auswahl an Tanz- und Performance-Darbietungen. Alle Informationen sind auf festwochen.at zu finden.