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Elfriede Kern: „Das Nesselhemd“, Roman

Autorin Elfriede Kern, Videoausschnitt, Bachmannpreis 2013

Im Winter muss Meret ihren Rucksack schultern und eine Wanderung nach Norden antreten. Muss, weil Sam das so will. Der hat sich in ihrem Haus eingenistet, behauptet, nur das Beste für sie zu wollen und schickt sie fort. Wehe sie kommt zu früh zurück, dann muss sie von vorn anfangen. Die österreichische Autorin Elfriede Kern erzählt im Roman "Das Nesselhemd" von Macht und Ohnmacht, Abhängigkeit und Unterdrückung. Auf eigenartige Weise.

Ob diese Wanderung, die immer wieder im Kreis führt, gerade passiert oder schon lange her ist oder erst geschehen wird, ist nicht so genau herauszufinden. Doch das Wandern ist auch Elfriede Kerns Lust. Im Wald, fern von den Menschen findet sie Ruhe und Inspiration. Was Meret findet oder im Auftrag von Sam finden soll, ist nicht klar, er will sie einfach aus dem Haus haben. Sie hat ihm nichts entgegenzusetzen.

Meret erzählt in der Gegenwart, das heißt sie schreibt alles auf, was passiert und auch das, was passieren könnte. Oder hat sie schon alles aufgeschrieben und wir lesen eine alte Geschichte. Dazu benutzt sie zwei Hefte, in denen Aktionen in der Gegenwart sind, doch immer wieder fügt sie hinzu: „… habe ich geschrieben, habe ich gesagt.“ Als beide Hefte vollgeschrieben sind, die Bleistifte stumpf, die Finger voll Druckstellen, hört Meret auf zu schreiben. (Ihre Schöpferin ebenfalls.) Sam hat sich inzwischen verdoppelt, der alte verschwindet, der neue ist wie der alte. Meret versucht sich zu befreien, er ist stärker, sie schafft es nicht. „Ad infinitum“ ist ihr letztes Wort. Elfride Kern © Jung und Jung

Wären Sprache und Stil der Elfriede Kern nicht so seltsam, hermetisch und märchenhaft zugleich, ich hätte nicht mit aufgeregter Spannung zu Ende gelesen. Diese Meret ist nicht mein Fall. Eine schlappe Frau, die sich diesem Sam willenlos unterordnet, auch gegen andere Menschen, die ihr begegnen und sofort in ihr Leben eingreifen, kann sie sich nicht wehren. Hängt sich an sie, tut was sie befehlen. Nein, befreunden kann ich mich nicht mit ihr und je länger ich sie auf ihre Wanderung im unbekannten Gebiet begleite, desto wütender werde ich auf diese Person.
Doch da sind andererseits die Wörter und Sätze, wie Schlingen sind sie ausgeworfen, um die Leserin einzufangen. Nahezu pausenlos, ohne Absatz und Kapiteleinteilung schreibt Meret in ihre Hefte, die sie wohl selbst nicht auseinanderhalten kann. Was war wirklich, was hätte sein können, was sollte sein? Es gibt keine Chronologie, alles passiert zugleich, vielleicht nur in Merets Kopf. Kern zieht mich in einen magischen Kreis hinein und bald geht es mir wie Meret, ich finde nicht mehr heraus, kann mich nicht wehren und bin ziemlich böse, als Meret die Hefte vollgeschrieben hat.

Buchcover © Jung und Jung Sei’s drum. Es geht ja endlos weiter, beziehungsweise im Kreis. Also fange ich wieder von vorne an. Der Titel des Romans ist übrigens nicht nur als Metapher zu lesen, die willenlose Meret lässt sich tatsächlich ein solches kratzendes, aus Brennnesseln gewebtes Hemd überziehen. Anders als in Mythen und Märchen wird sie dadurch nicht erlöst sondern nur noch mehr gequält.

Elfriede Kern ist 1950 in Bruck an der Mur geboren, war Bibliothekarin in der Österreichischen Nationalbibliothek und lebt seit etwa zehn Jahren in Linz. Vor dem „Nesselhemd“ hat sie 2003 “Tabula rasa“ veröffentlicht, woraus sie beim Bachmannpreis gelesen hat. Doch österreichische Literatur scheint den deutschen Juror_innen nicht so besonders zu schmecken.

Elfriede Kern: „Das Nesselhemd“, Jung und Jung, 2017, 254 S., € 23, --.