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Maggie Shipstead: „Dich tanzen zu sehen“

Maggi Shipstead © Michelle Legro

Was wie eine kitschige Liebesgeschichte beginnt, wandelt sich bald zu einem bestens choreografierten Entwicklungsroman, in dessen Mitte die Liebe zum Ballett steht. Für Spannung sorgt ein Geheimnis, das die Leserin noch vor der Offenlegung selbst entschlüsseln darf. Der Zauber des Balletts und die Hektik der Proben stehen in scharfem Kontrast zum geschilderten ruhigen Familienleben in Kalifornien.

Joan Joyce ist eine Tänzerin in einer New Yorker Company. Sie ist gut, aber nicht gut genug. Eine gefeierte Solistin, wie ihre Freundin und Zimmergenossin Elaine, wird sie nie werden. Das macht ihr später der aus der Sowjetunion geflüchtete Tänzer Arslan Rusakov klar. Joan wählt einen anderen Weg, sie wird schwanger, heiratet und zieht ihren Sohn, Harry, mit aller Raffinesse einer Ballettmutter groß. Harry fängt Feuer und möchte als Tänzer die Spitze erreichen. Der eigene Ehrgeiz ist eben nur scheinbar besiegt. Was den Eltern verwehrt ist, sollen die Kinder erfüllen. Auch wenn das Schweiß, Blut und Tränen kostet.

Die Geschichte von Joan, ihrem Ehemann Jacob und deren Sohn, beginnt in den 1970er Jahren, als Arslan Rusakov mit dem Leningrader Ballett zum ersten Mal in New York auftritt. Joyce ist fasziniert und es gelingt ihr, ihn nach der Vorstellung in seiner Garderobe zu verführen. Rusakow nimmt, was / wer sich ihm anbietet. Deshalb ist Joy auch erstaunt, als Arslan ihr Briefe schreibt. Sie meint, er sei so verliebt wie sie, doch er hat das etwas naive Mädchen auserwählt, ihn aus dem Gefängnis der sowjet-russischen Compagnie zu befreien, ihm zur Flucht zu verhelfen. Endlich am Ziel, braucht er sie nicht mehr, weder als Geliebte und schon gar nicht als Tanzpartnerin. Arslan wird bald weltweit als Jahrhunderttänzer gefeiert, Joan bleibt Mittelmaß und ist ihm nur noch im Weg.
Die Wunde, die der untreue Tänzer geschlagen hat, heilt auch im anderen Leben, als biedere Ehefrau mit liebendem Mann und heranwachsendem Kind, nicht. Ganz gibt sie ihre Liebe zum Tanz nicht auf, eröffnet eine Ballettschule für Kinder, in der sie ihren Sohn und Chloe, die Freundin Harrys aus der Nachbarschaft, trainiert. Ballettomania: Nascha Mair, Davide Dato, Maria Alati in "Etudes" © Wiener Staatsballett / Michael Pöhn Das Drama wiederholt sich.
Chloe geht es wie Joan, auch für sie erfüllt sich die Sehnsucht, eine große Ballerina zu werden, nicht. Sie ist gut, aber nicht gut genug für Harry. Eiskalt gibt er seiner Kinderliebe den Laufpass. Seine Karriere und der angebetete Arslan sind ihm wichtiger. Von dem Startänzer zu lernen, mit ihm zu tanzen, ist der Motor seines Lebens. Harrys Vater, ein Pädagoge, versteht ihn nicht, lässt ihn aber gewähren. Harry wird bei seinem ersten Auftritt stürmisch gefeiert. Ein neuer Star ist geboren.

Maggie Shipstead, die in ihrer Kindheit selbst getanzt hat, entwirft kurze Szenen mit Rückblenden in des 20. Jahrhundert, als Joan sich in Arslan verliebt hat und ihm als Chauffeurin zur Flucht über Kanada verholfen hat. Shipstead hat sich für die Figur des Arslan von der Geschichte Michael Baryshnikovs inspirieren lassen und auch der geliebte Ballettmeister und Choreograf der jungen Tänzerinnen Joyce und Elaine in New York hat ein Vorbild: Mister K. ist eindeutig an Mister B. orientiert, Ballettfans als George Balanchine, dem nach Amerika emigrierten Tänzer und gefeierten Choreografen, bekannt. Die Muse Mister K’s, Elaine, hat dementsprechend Suzanne Farrell als Vorbild. Doch Shipsteads Werk ist nichts weniger als ein Schlüsselroman. Die scheinbar identifizierbaren Persönlichkeiten sind lediglich inspirierende Geister im Hintergrund, die erzählte Geschichte ist pure Fiktion. Als Titel hat die Autorin einen Ausspruch Serge Diaghilews, Impresario der Ballets Russes, „Estonish Me – beeindrucke mich“ gewählt. Der deutsche Verlag gibt dem Ballettroman, wie betont wird „mit Einverständnis der Autorin“, den weniger einprägsamen Halbsatz „Dich tanzen zu sehen“.

Buchcover © dtvDie Charaktere – Antagonisten / innen vor allem, wie die beiden benachbarten Ehepaare Joan mit Jacob und Sandy mit Gary; oder die Tanzbegeisterten Elaine und Joan; Harry und Chloe) – sind differenziert und glaubwürdig gezeichnet, sodass die Themen weiter kreisen als nur um das Ballett allein. Davon erfährt man aber recht viel, vor allem was Perfektionismus, Disziplin, Ausdauer und natürliche Begabung betrifft. Ohne diese, die Veranlagung und den richtigen Körperbau, führt auch härtestes Training nicht an die Spitze. Wer die Beine nicht exakt nach außen drehen kann, wird den Tanzhimmel nicht erreichen. Viele geben sich damit zufrieden, müssen sich zufriedengeben. Manche leiden, suchen ein Ausweg, fliehen in ein Leben weitab von der Bühne und können doch deren Magie nie vergessen.

Shipstead schafft es, sowohl den Zauber als auch die Grausamkeit des Balletts abzubilden, bringt in den Ballettsaal wie in die Reihenhaussiedlung in Kalifornien Atmosphäre ein und zeigt den Tanz als Metapher für das Auf und Ab des Lebens.

Maggie Shipstead: „Dich tanzen zu sehen“, übersetzt von Karen Nölle, dtv premium, 2015. 368 S., € 17,40.