Gesellschaft im Aufschrei
I’ve no wish to stand up and speak“, heißt es gleich zu Beginn von Cri des signes: Doch es ist eben dieser cri, dieser Schrei, oder auch Ruf, eine Art dunkler, verzweifelter Anrufung an die Gesellschaften von heute, mit der das neue Stück der österreichischen Choreografin und Tänzerin Saskia Hölbling am Wiener Off-Theater beginnt.
„Zu wenig Kraft“ hätte ihre Stimme, spricht Hölblings Figur weiter in ihrem Eingangsmonolog. Die Bühne: drei quadratische, an unterschiedlichen Orten im Bühnenraum platzierte Spielflächen. An den Rändern stehen graue Plastikboxen als Sitzmöglichkeiten, hinten rechts, sichtbar: das Technikpult.Nur einen Hauch über dem Boden der Realitäten werden die drei zentralen Spielflächen im Verlauf der sechzig minütigen Produktion zu Orten des Rückzugs und der Revolution, zu Räumen der Liebe und des Abschieds. Hölbling sowie ihre beiden Co-Choreograf:innen und Tänzer:innen, Leonie Wahl und Ardan Hussain, begeben sich, einer musikalisch strukturierten revueartigen Abfolge gleich, in immer wieder neue choreografische Konstellationen: Sie sind „brothers“ (und sisters) „in arms“ und „Männer“ („men“) in einer „Welt der Männer“, dann wieder „Prophet:innen“ und streitbar Liebende. Jeder dieser getanzten „Schreie“ scheint Fragment jener gleich zu Beginn zitierten Empörung über eine „comfort world“, eine Welt, in der es sich nur manche bequem machen können, während andere sich kontinuierlich auf der Flucht befinden. Ein grauer Müllsack, in dem sich eine Reihe von Kleidungsstücken finden, die Wahl auf einem der Podeste zu Beginn laufstegartig an- und wieder auszieht, ist das, was er ist – und zugleich Ereignisort: neue Identitäten tun sich aus seinem Inneren hervor, die im Laufe des Stücks die Räume ändern, aber auch ihre Träger:innen. Am Ende breitet Hölbling die Teile noch einmal in unterschiedlichen Konstellationen auf, verschiebt sie mehrfach auf der ihr vorgegebenen kleinen Bühne auf der Bühne, lässt wieder und wieder neue Gestalten erscheinen, die diese Welt der Zeichen und Bedeutungen prägen.
„my turn to stumble, my turn to fall“
Bis sich die Sackwesen an ihrem finalen Ort finden, haben Wahl, Hussain und Hölbling auf unterschiedliche Weisen nach Positionen und Konstellationen gesucht, sind im pointierten „Discolicht“ (Reto Schubiger) des Abends in „urbane Albträume“ („city nightmares“) eingetaucht, aber auch in „positive feelings“ und „martial arts“, sind gestolpert („stumbling“) und in eine ganze Reihe an dunklen Ängsten eingetaucht („fear all the time“).
Wie schon in ihrer letzten Arbeit, fragments of desire, die vor einem Jahr ebenfalls am Wiener Off-Theater zu sehen war, entzieht sich Hölbling auch in ihrem neuen Projekt zwar linearen Narrativen, gibt ihrer Choreografie jedoch immer wieder in lesbare Passagen, die sich mit weniger narrativen Sequenzen ablösen. So werden die im Programmheft zitierten „Eigenwelten“ durch die Bespielung der jeweiligen, sich jedoch verschiebenden „Soloräume“ ebenso deutlich sichtbar wie Momente vom Gemeinschaft, zumindest „Gemeinsamem“, auch wenn es nur die geteilten Kleidungsteile sein mögen. Oder eine beginnende Liebesgeschichte, die zum erbitternden Kampf, dann wieder zum fast clownesken Balgen mutiert.
Immer wieder finden die drei Performer:innen auch aus ihren je eigenen Erzählräumen zusammen, bleiben für kurze Zeit im choreografierten Gemeinschaftsraum, ohne ihre jeweiligen Charakteristiken aufzugeben, um sich von hier wieder in Duetten oder solistischen Passagen zu vereinzeln (die „Sanfte“, der „Akrobat“, die „Kriegerin“ …).
„sleeplessness strikes the eye wide open“
Mehrmals an diesem Abend wird eine digital bearbeitete urbane Landschaft (Video: Evi Jägle) auf dem von links nach rechts in leichter Schräge quer über die Bühne gelegten Tanzteppich eingeblendet – es sind bewusst überfordernde, sekundenschnell aufblitzende,rauschhafte Bilder einer in die Brüche gehenden Welt, deren schrille mediale cris des signes Ruhe verbieten – und zugleich Apathie erzeugen: „die Überforderung eines immer komplexer werdenden und digital dominierten Alltags“, heißt es im Abendprogramm.
déformation humaine
Am Ende teilen Hussain und Wahl mit breiten schwarzen Gummibändern den Raum laserstrahlartig neu ein, zergliedern das bis dahin Gesehene ein letztes Mal. – Mit Cri des signes gelingt Saskia Hölbling eine starker, weil nicht nur im Albtraumhaften verharrender Abend, an dem angesichts der Paradoxien, die er in den Begegnungen von Räumen, Körpern, echolotischen Klängen und Songtexten kontinuierlich eröffnet, immer wieder auch so etwas wie Hoffnung, zumindest aber ein Lächeln möglich scheint.
Saskia Hölbling: Cri des signes, Off-Theater, 14.1. 2025
Künstlerische Leitung, Regie: Saskia Hölbling
Tanz & Choreografie: Saskia Hölbling, Ardan Hussain, Leonie Wahl
Video: Evi Jägle; Musik: Heinz Ditsch; Licht: Reto Schubiger; Tontechnik: Miriam Jochmann
Fotos: © Anna Stöcher/