Schnitzeljagd im Geisterwald
Helmut Krausser, 60, nennt seinen 19. Roman Freundschaft und Vergeltung. Das klingt romantisch, so wie Stolz und Vorurteil oder Verstand und Gefühl. Doch diese Romane sind nicht von der literarischen Produktionsmaschine Krausser, sondern von Jane Austen geschrieben und vor mehr als 200 Jahren erschienen. Romantisch ist Freundschaft und Vergeltung dennoch.
Im ersten Teil geht es vor allem um die Freundschaft, die oft nur eine scheinbare ist. Die Romantik ist etwas überhitzt, um nicht zu sagen ziemlich feucht. Denn die Geschichte beginnt im englischen Knabeninternat Raven Hall mehr als ehrwürdig. Ein verlassenes Schloss, in dem Direktorin Iris Pinkerton, die später eine wichtige Rolle zu spielen hat, weil sie verschwunden ist, wohnt. Bauten für die Schülerzimmer, Bauten für die Wohnungen der Lehrerinnen, eine Unterkunft für den Hausmeister und eine alte Kapelle mit einem Sarkophag samt dem Gerippe einer Agnes Dyer, vermutlich der Geliebten irgendeines Earl. Die spielt keine Rolle, weil die neugierigen Buben den Deckel nicht heben können. Raven Hall liegt ziemlich abgelegen nahe der Kleinstadt Westcott im südostenglischen County Surrey. Die ist nur 15 bis 20 km von Weybridge am Wey entfernt, wo heute das Brooklands College nicht nur männliche Studierende beherbergt. Die jungen Frauen haben üblicherweise weniger Probleme mit Testosteron-Ausbrüchen, wie die Schüler von Raven Hall.. Die Bilder im Text stammen von dieser Fachhochschule in Surrey. Raven Hall allerdings ist seinem Ende nahe. Nur die großzügige Spende des wohlhabenden John Bradshaw ermöglicht dem College das Schuljahr 1965 zu beginnen. Aus den 1960er / 20er Jahren stammt auch die Musik, die von den Studiosi gehört und selbst erzeugt wird. Ob die hoffnungsvollen Knaben jemals den Unterricht besucht haben, verschweigt der Berichterstatter. Er erinnert sich jedoch, dass ihr Gehirn in die Hose gerutscht war. Keine Bange, Krausser wird niemals unappetitlich, hat aber selbst vor allem Erotik im Kopf. Oder verwechsle ich den Autor Brewer mit dem Autor Krausser? Das ist nämlich Anthony / Tony Brewer. Er war 1965/66 mit 17 in Raven Hall, wurde später Rechtsanwalt und hat im Ruhestand nichts anderes zu tun als alte Geschichten aus diesem Schuljahr auszugraben und das Verschwinden von vier Menschen aufzuklären. Er verheddert sich in einem Gewirr von Lügen und Fantasie, Erinnerungslücken und Schwindeleien und ist am Ende so klug als wie zuvor.
Doch zuerst tauchen wir ein in das Semester 1965, das zu Weihnachten, wenn der Schnee knirscht, endet, wenn die meisten Schüler nach Hause fahren. Die mit dem Heranwachsen beschäftigten Männer sind in Vierbettzimmern untergebracht. Tony wird von Chris, der ein Jahr älter ist, gemeinsam mit zwei anderen ausgesucht, mit ihm zu wohnen. Dieser Chris ist ein Tunichtgut, Manipulator, Kasperl, Schwindler, er beleidigt nicht nur seine Kommilitonen, auch vor den Lehrerinnen hat er keinen Respekt, er bringt die Menschen zum Lachen und die Direktorin dazu, ihm Stockhiebe auf den Hintern zu verpassen. Anscheinend war die Prügelstrafe in Großbritannien 1965 noch erlaubt. Die Königin wird hoffentlich nichts davon gewusst haben.
Chris ist der nicht besonders wohlgeratene Sohn des Mäzens John Bradshaw. Klar, dass er seinen Sohn in RH unterbringt, nachdem er schon aus diversen Schulen im Königreich hinauskatapultiert worden ist. Der Haken an dieser harmlosen Geschichte erscheint in der Lehrerin Deborah Rodgers, die für kurze Zeit die Geliebte von J.B. war. Doch in Deborah ist halb RH verliebt, einschließlich des Hausmeister womöglich und jedenfalls Tony, der Erzähler und angeblich auch Chris, der so tut, als hätte er landen dürfen. Liebe wird’s wohl kaum gewesen sein, eher jugendliche Neugier und Schwärmerei, was die Männer angetrieben hat, muss nicht erklärt werden, es ist immer Dasselbe. Die kapriziöse Miss Rodgers jedenfalls scheint das Schwarmgeschwänzel genossen zu haben. Sie wusste sich die Verliebten zunutze zu machen. Die Leserinnen werden indessen mit Chris‘ groben Scherzen und lasziven Sprüchen unterhalten. Und dann kommt Weihnachten und die meisten Schüler und Lehrer sausen ab nach Hause. Iris Pinkerton, die strenge, traditionsbewusste Direktorin, bleibt im kalten Schloss. Mit ihr blieben noch einige Lehrerinnen, Deborah Rodgers natürlich, Chris Bradshaw blieb, wollte seine drei Mitbewohner überreden, auch zu bleiben, doch nur bei Tony, seinem treu ergebenem Buddy hatte er Erfolg. Auch der „Knirps aus der Achten“, Joshua Stein, wird die Feiertage in RH verbringen und sich auch nach 50 Jahren noch daran erinnern.
Die kleine Gesellschaft kochte, spielte, lachte gemeinsam und anfangs war Direktorin Pinkerton bei den gemeinsamen Mahlzeiten dabei, sie nutzte die Gelegenheit, um mit Deborah zusammenzukrachen. Pinkerton war auch die Erste, die nach dem Weihnachtsfest nicht mehr aufgetaucht ist. Noch wollten ihr die Kolleginnen Zeit lassen, meldeten nichts der Polizei. Dann kam Christians Vater mit Geschenken nach Raven Hall und bald darauf war von ihm, dem Sohn, und auch Miss Rodgers nichts mehr zu sehen. Die Polizei wurde eingeschaltet, befragte alle Anwesenden, durchsuchte die Anlage und den angrenzenden Wald. Erfolglos. Die Medien füllten des Winterloch mit dem Raven Hall Mystery (RHM).
Die Vier schienen sich in Luft aufgelöst zu haben, neue Skandale und Sensationen füllten die Medien. Nur Anthony Brewer gibt nicht auf. 1985 besucht der 37-jährige Anwalt Brewer alle noch lebenden Beteiligten und ließ sie in ihren Erinnerungen kramen. Sie bitten ihn herein, erzählen, aber können nichts wirklich Erhellendes beitragen. Weder der Verbleib von Iris Pinkerton noch der vom alten John Bradshaw interessieren Tony. Er will nur wissen, ob Deborah und Chris noch leben. Vielleicht sogar vielleicht zusammen? Die Leserin kämpft sich durch Polizeiprotokolle und Tonys Tonbandaufzeichnungen, wesentliche Unterschiede sind nicht zu finden. Die Rätsel bleiben ungelöst.
2015, mit 67 Jahren, geht der Anwalt Anthony Brewer in Pension. Er hat geheiratet, Kinder gezeugt, Enkelkinder sind auch da, doch er denkt an Deborah und Chris, beginnt seine Suche von neuem. Das Internet hilft. Bald hat er eine RHM-Gruppe gegründet. Das Netz aus falschen Erinnerungen, Lügen, wahren und erfundenen Storys verdichtet sich. Doch immer, wenn Tony meint, einen Faden in der Hand zu haben, reißt dieser. Unermüdlich setzt er seine Suche fort. Seinen Bericht beendet er, alerdings mit einem Satz, der neue Rätsel aufgibt. So ist die Welt, so sind die Menschen auf ihr, jedes gelöste Rätsel gebiert ein neues und der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge ist ein Fliegenschiss.
Helmut Krausser: Freundschaft und Vergeltung, Berlin Verlag 2024. 352 Seiten. € 25.70. Auch als E-Book (€ 21,99) ehältlich.