Doppelporträt: Zwei, die einander fremd waren.
Ökonomie des Erzählens: Zwei Porträts in einem Rahmen. Der Schweizer Autor Lukas Hartmann widmet zwei Personen einen biografischen Roman, die miteinander nicht viel mehr miteinander zu tun haben als die Zeit, in der sie gelebt haben und ihre Verbindung zum Kommunismus. „Ins Unbekannte. Die Geschichte von Sabina und Fritz“ nennt Hartmann dieses Doppelporträt zweier unterschiedlicher Personen, die einander nie wissentlich begegnet. Gemeinsam haben sie das Todesjahr 1942. Die Jüdin Spielrein wird in Rostow von den Nazis ermordet, Platten von Stalins Schergen im sowjetruissischen Straflager Lipowo.
Die Lebensgeschichten der beiden von Hartmann im Roman nebeneinander oder gegenüber gestellten Romanfiguren sind detailliert in Wikipedia nachzulesen. Sabina Spielrein ist, nicht zuletzt durch die Filmindustrie, wohlbekannt. Heute wäre Spielrein, geboren 1885 in Rostow am Don, ein Fall für die sozialen Medien, war sie doch nicht die erste Frau, die ihr Medizinstudium in Zürich als Psychoanalytikerin abgeschlossen hat, sondern auch eine Geliebte des Psychiaters Carl Gustav Jung, dem sie im Burghölzli als Patienten anvertraut war. Ein klarer Fall von #Mee Too. Jung war 10 Jahre älter als die damals knapp 20-jährige Sabina. Dass sich Patientinnen in ihren Therapeuten verlieben (oder glauben, diese zu lieben), ist in der Psychoanalyse als „Übertragung“ bekannt. Wenn der Therapeut darauf reagiert, sich seinerseits zu Patienten hingezogen fühlt, kommt es mitunter zu einer „Gegenübertragung“, der Arzt verlässt seine neutrale Position und verletzt damit eindeutig das Berufsethos. „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ in einer Therapie sind von den Geschlechterrollen völlig unabhängig. Zudem war Jung verheiratet und hat das Verhältnis akkurat zu einem Zeitpunkt begonnen, als seine Frau gerade wieder ein Kind erwartet hat. Genug Stoff, auch für Autor Hartmann, sich in Sabinas Gedanken und Träumen auszutoben. Sabina Spielrein, das ist aus dem Porträt zu erfahren, war eine tapfere Frau, die niemals aufgegeben hat, ob das Verhältnis mit Jung – Hartmann nimmt an, dass es tatsächlich zu sexuellen Kontakten gekommen ist, in einem Roman darf er aus seiner Vorstellung und Fantasie schöpfen – ist nicht gesichert. Egal, eine aufregende Geschichte ist es allemal.
Fritz Platten, von Hartmann als Parallelfigur eingeführt, kennt man weniger. Platten ist gebürtiger Schweizer, Spielrein war in der Züricher Psychiatrischen Klinik, dem Burghölzli, Patientin. Eine zufällige Koinzidenz, die aus dem Gespann kein Paar und dem Bericht keinen flüssigen Roman macht. Auch in Fritz Plattens Leben, das der Verbreitung des Kommunismus gewidmet war, finden sich filmreife Szenen. War er es doch, der nach der russischen Februarrevolution 1917 die Rückkehr Lenins aus dem Schweizer Exil nach Russland organisiert hat. Überdies hat er Lenin 1918 in Petrograd (St. Petersburg von 1914 bis 1924) das Leben gerettet. Platten sitzt neben dem kommunistischen Revolutionär, das Auto wird beschossen, Platten wirft sich über Lenin, wird an der Hand verletzt und gilt als Lebensretter. Natürlich kann Hartmann auch von Plattens Liebes- und Heiratssachen berichten, die leben vor allem in Plattens Erinnerungen, denen er sich im stalinistischen Straflage hingibt. Zuerst hatte die stalinistische Säuberungsaktion Plattens Frau Berta Zimmermann als „Trotzkistin und Spionin“ verhaftet, gefoltert und im Dezember 1937 erschossen. Fritz wurde ein Jahr später als Spion verhaftet und 1939 in das Straflager Lipowo im Gebiet von Archangelsk deportiert und 1942 erschossen. Fast schicksalhaft mutet es an, dass der Todestag Plattens, der 24. April, mit dem Geburtstag Lenins zusammenfällt.
Hartmann erzählt also von zwei mehr oder minder bekannten Persönlichkeiten, die die Welt verändern wollten und genau an den Idealen gescheitert sind, deren Verwirklichung ihr Ziel war. Sabina Spielrein ist allen, die sich je mit den Anfängen der Psychoanalyse oder Psychotherapie befasst haben, wohlbekannt. Dass sich Hartmann am tiefsten in deren frühe Jahre und in die Beziehung zu ihrem Therapeuten C. G. Jung versenkt, ist ihm nicht zu verargen. Der Politiker und Agitator Platten ist ein Landsmann des Autors und hat in der Schweiz als kommunistischer Revolutionär wohl Bedeutung. Für alle anderen Leserinnen ist er bestenfalls eine Figur aus Anekdoten, die er in „Lenins Reise im plombierten Zug“ selbst erzählt. Und Gulag-Berichte, die bei Hartmann breiten Raum einnehmen, gibt es schon genug. Die beiden zusammengestoppelten Lebensberichte sind Lektüre zum Durchbeißen. Verglichen mit anderen Romanen aus dem reichen Œuvre des bald 80-jährigen Autors, fehlt es der „Geschichte von Sabina und Fritz“ an Farbe und Lebendigkeit. Seinem zentralen Thema, das er in nahezu allen seinen Porträtromanen behandelt, ist er jedoch treu geblieben. Auch in „Sabina und Fritz“ geht es um die innere Zerrissenheit des Menschen, die Schwierigkeit von Entscheidungen und um die Einbindung der kleinen privaten Geschichte in die große der Welt. In vielen seiner Romane hat er mich mit mir bisher unbekannten Frauen und Männern bekannt gemacht. Meine Begeisterung hat wohl mit „Die Tochter des Jägers“ (Nagel & Kimche, 2002; Fischer Taschenbuch) begonnen, hat seitdem nicht nachgelassen, doch ist klar, dass der Zauber, der jedem Anfang inne liegt, niemals übertroffen werden kann.
Lukas Hartmann: „Ins Unbekannte. Die Geschichte von Sabina und Fritz“, Diogenes 2022. 288 Seiten. € 25,70
Fritz Platten: „Die Reise Lenins durch Deutschland im plombierten Wagen“, erweiterte Neu-Edition einer Broschüre aus dem Jahr 1924, Verlag Arbeiterlogik, 2022. Illustrationen und Fotos, 270 Seiten. € 15,00.