Katharina Korbach: „Sperling“, Roman
Katharina Korbach, geboren 1995 in Wiesbaden, hat bisher vor allem Erzählungen veröffentlicht und damit einige Wettbewerbe gewonnen. Nun veröffentlicht sie ihren ersten Roman, eine Großstadtgeschichte über Beziehungen, Beziehungen die nicht richtig funktionieren. Wolfgang, der an seiner Dissertation über Marcel Proust arbeitet und Literaturseminare abhält, interessiert sich für Charlotte, eine junge Frau, die keinen festen Boden unter den Füßen hat. Eine Liebesgeschichte wird nicht daraus, doch ein Roman, der seine Geheimnisse bewahrt wie Charlotte und Wolfgang. Neue deutsche Literatur, hochgelobt, doch nicht wirklich neu und packend.
Der Titel lässt an ein Werk über Vogelkunde denken, doch mit der hat Katharina Korbach nichts im Sinn. So ist auch der Titel etwas sonderbar. Angeblich wurde die Protagonisten Charlotte (vielleicht heißt sie aber auch Sophie, sie weiß selbst nicht wirklich, wer sie ist, wer sie sein will) in der Kindheit so gerufen: Sperling. Sperlinge aber sind zwar kleine Vögelchen, doch soziale Wesen, sie leben in Gruppen und haben einen organisierten Tagesablauf. Der Haussperling oder Spatz, der wohl gemeint ist, gilt als sogenannter Kulturfolger, der überall dort auftritt, wo Menschen sich ständig aufhalten, ergo gern in Städten lebt. Wenn der kleine Singvogel sein Köpfchen schief legt, im Gartencafé auf den Tischen umherhüpft und die Brösel aufpickt, entlockt er den Besucher:innen ein Lächeln. Charlotte ist alles andere als ein fröhlich tschilpender Spatz. Ein wenig Systematik hätte erkennen lassen, dass der Titel zwar hübsch kling, aber nicht wirklich passend ist: Der Hausspatz gehört zur Familie der Sperlinge (Passeridae), die nahezu über die ganze Erdkugel verbreitet ist, sich leicht anpasst und gern einem gemeinsamen Bad im Wasser oder im Staub frönt. Selbst in der Wohngemeinschaft hat Charlotte allein gelebt. Spatz ist ein beliebter Kosename für Kinder, eine pejorative Bezeichnung mancher Machos für Freundinnen oder Ehefrauen. Genug gespatzt, weiter in der fragilen Beziehungskiste gekramt.
Wolfgang knabbert an seiner Dissertation zu Proust, zu „Marcel Proust und literarischen Erinnerungskonzepten“. Er ist fast schon fertig damit, kann aber keinen Abschluss finden. Lieber schaut er durch das Küchenfenster quer über den Lichthof und beobachtet die Nachbarin, die auch in der Küche sitzt und zeichnet. Die Abende werden zur Routine wie der Ablauf der Tage im alten Zinshaus in Berlin-Kreuzberg. Es ist Charlotte, die er beobachtet während er versucht seine Diss zu beenden. Auch sie ist erst kürzlich nach Berlin gezogen, studiert Literatur, sitzt auch in Wolfgangs Seminar und serviert nebenbei in einem Bistro. Er erkennt in der Studentin seine Nachbarin, die ihn fsziniert und an das berühmte Bild Vermeers „Das Mädchen mit den Perlenohrringen“ erinnert. Der Dozent lädt die Studentin ein, mit ihm eine Ausstellung zu besuchen. Sie willigt ein. Später begegnen sie einander vor der Haustür, sie ist überrascht, er tut so. Sie rücken näher zusammen. Eine osmotische Gemeinschaft entsteht. Sie übernachtet bei ihm, weil sie da endlich ihre Schlafstörung, übrigens nicht die einzige Störung, die sie plagt, überwinden kann. Er kommt mit seiner Dissertation zurande, weil er endlich schreiben kann, während sie neben ihm schläft.
Über die Vergangenheit, die verlorene Zeit, wird nicht gesprochen. Charlotte erzählt die Oberfläche zwar ihrem Therapeuten, einem Dr. Szabó, der äußert sich selten zu ihren Erzählungen, bohrt auch nicht nach. Am Ende kann Wolfgang seine Doktorarbeit abgeben und der alte Doktorvater lüftet das Geheimnis um die Fliederblüte, von der er immer spricht. Dr. Szabó ist verschwunden und Charlotte muss sehen, wie sie allein zurechtkommt. Ob diese Bekanntschaft, denn mehr ist es nicht, was Charlotte und Wolfgang verbindet, sich vertiefen oder zerbrechen wird, bleibt der Leserin überlassen.
Korbach lebt selbst in Berlin und ist eine gute Beobachterin, setzt alle Sinne ein, um das Leben und Treiben in der Großstadt zu beschreiben. In alten Berliner Häusern riecht es nach Waschmittel und nassem Hundehaar. Ganz anders in Wien, da riecht es nach aufgekochtem Kohl und in manchen Vierteln auch nach Hammelfleisch. Doch muss ich wirklich über den mnutiös beschriebenen täglichen Ablauf in einem Mietshaus lesen, ist das nicht auch mein Alltag, täglich die gleiche Routine?
Katharina Korbach ist eher wegen ihres eleganten, schnörkellosen Stils, der klaren, kurzen Sätze zu lesen. Die Genauigkeit der Beschreibung von Wolfgangs Alltag und Charlottes Gedanken kann aber auch ganz schön langweilen. Die Autorin vermeidet jegliches Psychologisieren und Erklären, die Leserin darf das Innenleben, die Erinnerungen und die Verbiegung der Erinnerungen selbst gestalten. Nicht grundlos lässt sie Wolfgang über Proust arbeiten. Doch die beiden schwierigen Charaktere, Wolfgang, immer erschöpft, und Charlotte, immer schwankend, kenne ich zur Genüge und Korbachs Text ist so kalt wie die Beziehung zwischen Wolfgang und dem Sperling. Es bleibt den Leserinnen überlassen, die Geschichte aus- und weiterzuspinnen. Korbach lschwäätzt nicht, lässt vieles ungesagt, es bleiben Lücken, die nicht gefüllt, Rätsel, die nicht gelöst werden.
Wenn es um die Einsamkeit geht und darum wie man gegen diese ankommt, dann empfehle ich Kent Haruf: „Unsere Seelen bei Nacht“ (Diogenes, 2015), ohnehin längst ein Kultbuch. Da sind die beiden, Addie und Louis, zwar schon gereift, also alt und es ist nicht der Moloch Großstadt, der die Hauptrolle spielt, sondern die Krake Kleinstadt, deren Arme durch jedes Fenster und jede Tür kriechen. Auch Haruf hat einen klaren, einfachen Stil, doch der strahlt nahezu wohlige Wärme aus, auch wenn er, wie Korbach, den Alltag gar nicht außergewöhnlicher Menschen beschreibt. Dass das Gewöhnliche auch immer außergewöhnlich ist, hat mich Haruf gelehrt. Korbach lehrt mich nichts, sie macht mich depressiv, doch nicht mitfühlend.
Katharina Korbach: „Sperling“, Berlin Verlag, 2022. 320 Seiten. € 22,70.