Wilfried Steiner: „Schöne Ungeheuer“, Roman
Eine anerkannte Wissenschaftlerin im Forschungszentrum CERN wird als Mörderin verhaftet. Jelena Karpova soll ihren Koller Jan Koller erstochen haben. Sie gesteht, und kommt ins Gefängnis der Wissenschaftsjournalist Georg Hollaus und die Anwältin von Karpova glauben an Karpovas Unschuld. Vermutlich will sie jemanden schützen. Hollaus selbst erzählt die Geschichte, die wie ein orientalisches Märchen immer weiter ausufert und viel mehr als ein simpler Kriminalroman ist.
Jelena Karpova gerät in diesem Abenteuer von Georg Hollaus immer mehr aus dem Focus, weil Hollaus ins amüsante Schätzen gerät. Hauptort der Handlung ist Genf, wo die Europäische Organisation für Kernforschung (CERN) sitzt und die klügsten Köpfe der Welt forschen, einander bespitzeln und konkurrenzieren und von ihrer Arbeit so besessen sind, dass sie auch vor einem Mord nicht zurückschrecken. Besessen ist auch Hollaus von allem, was im CERN (Conseil européen pour la recherche nucléaire) passiert. Für ihn ist das Institut der Himmel und der Teilchenbeschleuniger ein anbetungswürdiges Wesen. Doch Hollaus ist auch an der inhaftierten Jelena Karpova interessiert, auch sie findet er anbetungswürdig und Genf hat noch mehr zu bieten als das zwischen der Schweiz und Frankreich liegende Forschungsinstitut. Etwa die Villa Diodati, wo Lord Byron 1816 mit seinem Freundeskreis, zu dem auch Mary Godwin, die sich dort in ihren späteren Ehemann Percy Shelley verliebt hat, logiert hat. Mary Shelley! Da klingelt es hoffentlich in den Köpfen der Leserinnen.
Mit Schwung dreht der Autor das Rad der Zeit zurück und dreht eine Pirouette vom 21. Jahrhundert zum Beginn des 20. und verbindet den „modernen Prometheus“ (Untertitel des Romans von Mary Shelley) mit seinem geliebten Teilchenbeschleuniger und dem Globus der Wissenschaft und Innovation, dem Kugelbau, der zum Besucherzentrum des CERN gehört. Shelleys Hauptperson ist schließlich auch ein Wissenschaftler und ebenso frustriert und ehrgeizig wie manche der Begegnungen Hollaus im CERN. Die Karpova spielt eine etwas zwielichtige Rolle in den Wochen bis zur Gerichtsverhandlung, auch Hollaus Begleiterin, Eva Mattusch, Karpovas Anwältin, ist kein offenes Buch. Jedenfalls hält sie den von sich überaus eingenommenen, aber etwa naiven Wissenschaftsjournalisten fest an der Hand, rennt mit ihm durch ganz Genf, um ihm die die Sehenswürdigkeiten vorzuführen, was sowohl Genfkennerinnen als völlig Unwissenden großes Vergnügen bereitet, zumal sie nicht mit Eva bei jeder besseren Wirtschaft Halt machen müssen, weil die Dame dauernd Hunger und jeden Genfer Wirt als Freund hat.
Wilfried Steiner weiß viel zu erzählen und tut dies durchaus interessant und mit Humor gewürzt, obwohl er manchmal, vor allem bei den Landschafts- und Umgebungsbeschreibungen nahe an der Kitschpalette baut. So richtig warm werde ich auch mit seinen Personen nicht, weder die Anwältin Eva noch den Journalisten Hollaus kann er richtig zum Leben erwecken, und ich hoffe, dass dieser Wissenschaftsjournalist mit seiner hündischen Verehrung für die Frauen, die da im CERN in der Kantine ihre Pause verbringen und dem Suchenden Auskunft geben, nicht das alter Ego des Autors ist, der ist nämlich der Pubertät längst entwachsen. Steiner mischt Fakten mit Fiktion und verliert trotz aller Volten und Zeitsprünge das eigentliche Thema, die Rätsel des Universums und der Entstehung unserer kleinen Welt, nicht aus den Augen. Was er so nebenbei an Wissen vermittelt, liest sich locker und leicht, nützt und unterhält zugleich, überfordert aber auch, wenn er sich in der Erklärung unterschiedlicher Thesen des Forschervolkes im CERN ergeht. Seine Schilderung des durch Vulkanasche grauen Genfer Sommers, in dem Mary, damals noch Mary Wollstonecraft, die Ideen für ihren weltberühmten Roman niedergeschrieben hat, hat mir Lust, gemacht, endlich deren Biografie zur Hand zu nehmen. Diese wartet schon seit Jahren darauf, endlich verkostet zu werden. Mir schein aber, dass das Werk von Karin Priester (emeritierte Professorin der Universität Münster) nur noch antiquarisch zu erstehen ist. Offenbar hat auch Literatur ein Verzehrdatum, obwohl sie meines Wissens nicht verdirbt.
Wilfried Steiner: „Schöne Ungeheuer“, Otto Müller Verlag, 2022. 320 Seiten. € 25,--.