Heinrich Steinfest: „Die Möbel des Teufels“, Krimi
Freundinnen des Österreichers Heinrich Steinfest kennen den einarmigen Detektiv Markus Cheng bereits, im neuen Roman, „Die Möbel des Teufels“, spielt er allerdings nur eine Nebenrolle. Er hat nämlich mit seiner Sekretärin, Frau Wolf, den Platz gewechselt. Frau Wolf ist die Detektivin, Herr Cheng ihr Sekretär. Die Hauptrolle ist jedoch dem 63jährigen Leo Prager zu gegedacht, der, nachdem er seine Familie verlassen hat und 44 Jahre auf der Insel eines Milliardärs im Südpazifik verbracht hat, endlich nach Wien zurückgekehrt ist, um den Nachlass seiner verstorbenen Schwester zu regeln.
Ein gewöhnlicher Tod war Eva Prager allerdings nicht beschieden, sie ist ermordet worden. Leo will erforschen, warum die Parlamentsstenografin, die auch nach der Pensionierung noch private Aufträge erledigt hat, durch Messerstiche getötet worden ist. Dabei muss er auch die Rätsel seines eigenen Lebens lösen. Der Mensch besteht zwar aus seinem Gedächtnis, doch dieses Gedächtnis ist ein Betrüger, zeigt nicht, was tatsächlich geschehen ist, sondern nur, was wir wollen, dass geschehen ist. Eine absolute Wahrheit gibt es ohnehin nicht, die Wirklichkeit ist eine Frage der Perspektive. Also Leo meint, er sei aus Wien geflohen, weil er schon mit 19 das Leben satt hatte und es beenden wollte. Im Koffer hat er eine Kamera mit einem unentwickelten Film, auf dem ein reales Geschehen gebannt ist, an das sich auch manche Leserin des Romans erinnern wird, der Einsturz der Reichsbrücke in Wien am Sonntag, dem 1. August 1976. Leos Hobby war damals das Fotografieren, und so hatte er auch die Kamera im Anschlag, als er am besagten Sonntagmorgen, nach einer verpatzten und mit einem Tritt beendeten Liebesnacht, seiner letzten für 44 Jahre, an der Donau entlang spaziert ist. Was er meinte gesehen und auch fotografiert zu haben, war auch ein durch die Luft fliegender Mann, der im Fluss versunken ist. In den Nachrichten und Medienmeldungen ist dieser Mann nie erwähnt worden und Leo wollte, so redet er sich ein, „nicht zum Mörder dieses Mannes werden“, und hat den Film nicht entwickeln lassen. Die Kamera nimmt er auf seiner Flucht aus Wien mit. Nach manchem Abenteuer auf und unter den Meereswogen landet er samt dem unentwickelten Film im Fotoapparat, der übrigens keinen Schaden erlitten hat, wie sich 44 Jahre später in Wien herausstellt, auf der Insel Claire, die samt der daneben liegenden kleineren Insel Mönchengladbach, einem Millionär gehört. Mister Oak ist gerade nicht zu Hause, doch die drei Bediensteten nehmen den Gestrandeten freundlich auf, Oak gestattet Leo später auch, zu bleiben, er bekommt einen Aufgabenbereich zu geteilt und fühlt sich im Sonnenschein und unter Palmen so lange wohl, bis er im Internet einen Kommentar seiner Schwester liest, beschließt, ihr zu scheiben und durch den öffentlichen Austausch ihrer Gedanken auch von ihrem Tod erfahren muss. Leo beschließt nach Wien zu reisen, nicht ahnend, dass er mit Hilfe der Detektei Wolf nicht nur den Mord an seiner Schwester, sondern auch das Mysterium des Reichsbrückeneinsturzes aufklären würde.
Dabei hilft ihm, nach aufregender und auch verwirrender Lektüre, ein dünnes Büchel aus der Bibliothek der Schwester, dessen Titel, „Die Möbel des Teufels“, sich auch Autor Steinfest angeeignet hat. Urheberrecht gibt es offenbar keines zu beachten, denn der Roman ist ohne einen Hinweis auf den Autor erschienen. Doch dieser Unbekannte hat offenbar das 2. Gesicht gehabt, denn er schildert ein Ereignis, eben den Einsturz der Donaubrücke, das erst 11 Jahre nach dem Erscheinen des dünnen als Kriminalroman bezeichneten Buches tatsächlich passiert ist. Nach der Lektüre sieht sich Leo gezwungen, zu prüfen, ob der alte Film noch entwickelt werden könnte, ja ob überhaupt jemand zu finden sei, der in digitalen Zeiten die analog entstandenen Fotos noch sichtbar machen könnte. Natürlich findet Leo diesen Künstler, sonst müsste sich der Autor eine völlig andere Pointe ausdenken.
Paradox ist, dass die Welt für Leo immer dunkler wird, während die dunklen Geheimnisse sich erhellen. Er leidet an einer unheilbaren Makuladegeneration, was ihn aber nicht hindert, nach 44 Jahren auf der frauenlosen Insel endlich seine Unschuld – so sagt man doch, da „Jungfräulichkeit“ für einen Mann nicht wirklich passend ist? – verliert und die Liebe findet.
Obwohl Heinrich Steinfest laut Wikipedia seit den 1990er Jahren vorwiegend in Stuttgart lebt, kennt er sich in Wien, wo er aufgewachsen ist, bestens aus. Liebt und hasst die Stadt zugleich, lässt Leo denken, dass er längst tot wäre, wäre er in Wien geblieben, ihn aber auch die Liebe finden, ausgerechnet auf dem Hietzinger Friedhof. Und genau dieses zwiespältige Verhältnis zu Wien und ganz Österreich macht für Leserinnen, die dort geboren und zu Hause sind, wo sich Steinfests Personal herumtreibt, in Wien oder auf dem Semmering, die Lektüre weitaus spannender als die Kriminalhandlung, die in „Die Möbel des Teufels“ eher dünn ist und kaum noch interessiert, wenn der Mord an Eva Prager endlich geklärt wird. Viel interessanter ist die Personenzeichnung der Frauen und Männer, mit denen Leo Prager auf seiner Suche nach der Wahrheit, die es wie schon gesagt, nicht geben kann, in Kontakt kommt, und auch das nahtlose Einpassen der Fantasie in die Realität von Orten und Geschehnissen. Sämtliche Fakten, die Steinfest verwendet, um seinen Roman teuflisch zu möblieren, kann er nicht parat haben, auch wenn er sich, Jahrgang 1961, an den Reichsbrücken-Einsturz noch erinnern kann. So darf geschlossen werden, dass der Autor nicht nur im Lockdown von einem manischen Schreibzwang besessen ist, sondern auch von einem Zwang zur Recherche, wobei heutzutage ein funktionierendes Wlan, um in sämtlichen Geschoßen von Wikipedia und auch in den Untiefen von Google zu graben, solch eine Besessenheit ja zum unendlichen Vergnügen macht. Steinfest erzählt alles, was er sich gemerkt oder gefunden hat und kommt dadurch hemmungslos vom Hundertsten ins Tausendste, wobei es müßig ist, nachgewiesene Realität und romanhafte Fiktionalität auseinander zu klauben. 430 Seiten voll von Anspielungen, Metaphern, Ironie und auch Humor, in denen Steinfest wieder einmal alles unterbringt, was ihn so ärgert und bewegt. Es deckt sich oft mit dem, was die Leserin beschäftigt.
Dass der Autor noch näher an der Realität entlang geschrieben hat als er selbst ahnt, bestätigen die Fotos, die der damals 29jährige Hobby-Fotograf Hans Sladek von der eingestürzten Reichsbrücke gemacht hat. Anders als der 19jährige Hobby-Fotograf Leo Prager gemacht hatte. Er hatte sogar die Möglichkeit, das ganz Wien erschütternde Desaster bei einem Rundflug von oben zu fotografieren. Seine Frau, Elvira, hat die Fotos für das Internet, von dem 1976 noch kaum jeamnd eine Ahnung gehabt hat, aufbereitet. Elvira und Hans Sladek, die mir die Fotodokumente freundlich überlassen haben, gebührt mein aufrichtiger Dank.
Heinrich Steinfest: „Die Möbel des Teufels“, Piper, 2021. 430 Seiten. € 16,50. E-Book: € 12,99.