Iva Švarcová & Malte Ludin: „Tonsüchtig“, Porträt
Ein Orchester von Weltrang im Porträt: „Tonsüchtig. Die Wiener Symphoniker von innen“. Doch es geht es weniger um die Verdienste des Klangkörpers als um die Menschen, Frauen und Männer die ihn bilden. Iva Švarcová und Malte Ludin, für Drehbuch und Regie verantwortlich, bringen sie dem Kinopublikum ganz nahe, hautnah. Ein bemerkenswerter, anregender Film über Menschen, die ihre Berufung mit ihrem Instrument und in der Musik gefunden haben.
Die Überraschung am Ende ist ein glücklicher Zufall für den Film, eine Auszeichnung für die Wiener Symphoniker, eine Sensation für das Publikum: Eine Frau, Sophie Heinrich, wird nach dem nervenaufreibenden Probespiel um die Position des ersten Konzertmeisters von der Mehrheit der Jury engagiert. Sie sitzt seit 2019 auf dem Platz links vom Dirigenten, den Florian Zwiauer, der 30 Jahre Erster Konzertmeister der Wiener Symphoniker war, geräumt hat. Auch wenn die Geigerin nicht vom Himmel gefallen ist, Heinrich, 1981 in Augsburg geboren, war seit 2012 Erster Konzertmeisterin der Komischen Oper Berlin, kann die Freudentränen über das Jury-Urteil nicht unterdrücken: „… das ist richtig toll da vorne, also wenn man wirklich so mitgestaltet und die Gruppe mitziehen kann. Das macht süchtig, das macht Freude“, sagt sie, nachdem sie nicht nur als Solistin hinter dem Paravent reüssiert hat, sondern unter Philippe Jordan mit Beethoven auch im Orchester überzeugen konnte. Keine leichte Aufgabe wartet (wieder) auf sie, sitzt doch die Konzertmeisterin zwischen dem Dirigenten und dem Orchester, vermittelt zwischen dem Gott am Pult und den Gläubigen mit ihren Instrumenten. „Zwischen Skylla und Charybdis“, sagt ihr Vorgänger. Sophie Heinrich ist guten Mutes und vertraut auch dem Publikum: „Ich glaub`, dass dem Wiener Publikum gefällt, dass da endlich mal ‘ne Frau sitzt.“ Auch Philippe Jordan, seit 2014 Chefdirigent der Symphoniker, macht einem Nachfolger Platz. Der neue Operndirektor, Bogdan Roščić, hat Jordan zum Musikdirektor der Wiener Staatsoper bestellt. Der Nachfolger am Pult der Wiener Symphoniker hat sich schon vorgestellt: Andrés Orozco-Estrada, 1977 in Medellín / Kolumbien geboren und in Wien ausgebildet, kann sein Latino-Temperament nicht verleugnen und auch das Orchester mitreißen.
Natürlich ist so ein Probespiel, in mehreren Etappen, ein hochspannender Moment, selbst wenn man weiß, dass die Violinistin mit den rotblonden Locken gewinnen wird, denn eine Verliererin begleitet man nicht bis zur Enttäuschung. Doch der Film zeigt auch humorvolle Momente, etwa wenn Zwiauer kurz vor dem Auftritt seine Frisur im Spiegel prüft, oder Jordan den neuen Frack anprobiert. Er steht zwar immer wieder am Dirigentenpult, bei den kurzen Proben- und Konzertausschnitten, doch nicht im Zentrum des Films, dort sitzen die Orchestermitglieder. Wer bereit ist, kommt zu Wort, erzählt von der Ausbildung und den Anforderungen, von der Angst zu versagen und vom Scheitern, vor den Zweifeln der Älteren, wie lange man den richtigen Ton, den man im Kopf hat, noch erreichen wird. Die Jungen bangen beim Probespiel und wollen mehr erreichen, wissen, dass das Üben nie aufhören wird, denn die Perfektion ist unerreichbar; die Alten ahnen, dass sie mit ihrer Ja-Stimme als Juror Konkurrenten einladen und fragen sich, wie es im Ruhestand sein wird.
Überraschend ist, dass der Film weder glorifiziert noch glättet und die Instrumentalisten, Bläser und Streicher*innen, sich auch selbst nicht schonen. Eine solche Aufrichtigkeit ist man bei den Mitgliedern philharmonischer Orchester gar nicht gewohnt. Dass dieser Film „so ehrlich ist, dass es fast weh tut“ (ein Orchestermitglied nach Besichtigung des fertigen Films), liegt mit Sicherheit am Filmteam, Švarcová / Ludin. Die Kamera durfte auch im Wohnzimmer dabei sein, wenn die Ehefrau die bange Frag: „das Cello oder ich“ stellt. Erfahrene Musikerfrauen wissen das, es ist immer eine Ehe zu dritt, und oft sind sie auch allein, denn die beiden Partner, der Mann und sein Instrument, sind mit ihrem Orchester auf Gastspielreise.
Wirklich, nicht nur fast, weh tut die Ehrlichkeit, mit der der ehemalige erste Hornist Bernhard Kircher seine Geschichte erzählt. Dass er dem Orchester erhalten geblieben ist, sich im wichtigen Dienst als Orchesterwart um die Instrumente und Noten kümmert und auch wieder lächeln kann, macht froh. Jeder Musikerin, jedem Musiker kann es passieren, dass der Körper verweigert, was der Geist will. Der Film macht auch klar, wie hoch der Druck von außen in der Gruppe und von innen durch die eigenen Ansprüche in einem Orchester, das ein wesentlicher Teil heimischen Kulturlebens ist und den „Wiener Klang“ – wie man hört nicht zu definieren, nicht zu lehren, aber zu spielen – in alle Welt trägt.
Švarcová / Ludin haben auf jeglichen Kommentar verzichtet, die Betroffenen selbst reden lassen und sie auch in selbst gewählter Umgebung gefilmt, in den Bergen, auf dem Wasser, in der Reithalle. So wenig wie den ohnehin medial präsenten Dirigenten wird auch der Musik Aufmerksamkeit geschenkt. Im Mittelpunkt des Films sind Menschen, deren Beruf besondere Anforderungen stellt und der sie der Öffentlichkeit preis gibt. Sehenswert, nicht nur für Konzertbesucher*innen, die ihre Wiener Symphoniker sicher kaum jemals so nah gesehen haben, ihnen in Herz und Gehirn schauen durften.
Iva Švarcová & Malte Ludin: „Tonsüchtig. Die Wiener Symphoniker von innen“, Drehbuch und Regie Iva Švarcová und Malte Ludin. Kamera: Helmut Wimmer. Dramaturgie. Judith Doppler. Mit Mitgliedern der Wiener Symphoniker. Verleih: filmladen. Ab 4. September 2020 im Kino.