„Alles tanzt“ Wiener Tanzmoderne, Theatermuseum
Wien sei keine Tanzstadt, hat einmal ein, heute pensionierter, Operndirektor kundgetan. „Lernen Sie Geschichte, Herr Direktor“, hat damals, vor gut zehn Jahren, niemand gewagt, ihm zuzurufen. Der Zeitgenosse ist nicht der einzige Herrscher über die Wiener Opernwelt, für den die Tanzwelt nicht vorhanden ist. Gustav Mahler war auch nicht tanzfreundlicher. Nahezu ein Jahr lang kann nun Tanzgeschichte auf angenehme und gar nicht belehrende Weise im Theatermuseum erlebt werden. Der Subtitel umreißt das Thema: „Kosmos Wiener Tanzmoderne“. Die Tanzhistorikerin Andrea Amort und ihr Team haben in langjähriger und mühevoller Arbeit eine von Thomas Hamann gestaltete Ausstellung zustande gebracht, die sich sehen lassen kann und gesehen werden soll. Die Möglichkeit besteht bis 10. Februar 2020.
Gemeinsam mit dem Theatermuseum ist auch das MuK mit seinem Tanz-Archiv und indirekt auch die 1995 in Wien verstorbene Tänzerin, Choreografin und Pädagogin Rosalia Chladek an diesem Blick auf die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, als Wien eines der Zentren der Tanzmoderne war, beteiligt. Der umfangreiche Nachlass von Chladek ist die Grundlage des neuen Archivs, geleitet und kuratiert von Andrea Amort, einer Spezialistin für die Wiener und internationale Tanzmoderne.
Chladek ist in der Wiener Tanzgeschichte fest verankert, sie hat lange am heutigen MuK unterrichtet, ihre Schülerinnen fungieren als lebendes Archiv ihrer Choreografien. „Rosalia Chladek Reenacted“ ist eine speziell für die Ausstellung entwickelte Aufführungsserie, die von Tänzerinnen der freien Wiener Szene (Farah Deen, Cäcilie Färber, Eva-Maria Kraft, Katharina Illnar, Eva-Maria Schaller, Katharina Senk, Martina Hager und andere) gezeigt werden.
Daher war es für Amort zu eng gedacht, Rosalia Chladek eine Personale zu widmen, doch eröffnet die bedeutende Künstlerin virtuell die aktuelle umfassende Ausstellung im Eingangsbereich. Das Entree ist ihr gewidmet. Danach wird es anstrengend, denn der erste Raum ist dicht gefüllt mit historischen Materialien: Texte, Fotos und Tonfilme sind bei einem einzigen Besuch nicht zu bewältigen. Allein die Liste der gefundenen, gesammelten, geliehenen Filme füllt sechs Seiten. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Stunde es gedauert hat, sie zu finden, zu ordnenA, für die Ausstellung aufzubereiten. Und erst die Bilder. Wer zählt die begabten Künstlerinnen, nennt die Namen? Klar, die Schwestern Wiesenthal, die auf der Wiese im Prater Walzer getanzt haben, oder Hanna Berger, der Amort ein Buch gewidmet hat, oder Gertrud Bodenwieser, die 1938 aus Wien fliehen musste, in Australien gelandet ist und dort mit ihrer Gruppe, dem „Bodenwieser Viennese Ballet“ den expressionistischen Tanz Wiener Prägung bekannt gemacht hat.
Als erste im Alphabet der für den Katalog von Alfred Oberzaucher, nahezu 20 Jahre Ballettdramaturg an der Wiener Staatsoper, zusammengestellten Kurzbiografien des „KünstlerInnen-Netzwerks der Wiener Tanzmoderne“ ist Elsie Altmann, eine der Ehefrauen von Alfred Loos. Nach 99 Namen von Tänzerinnen und KünstlerInnen anderer Sparten, beschließt Mura Ziperowitsch, die 1919 von Moskau nach Wien emigrierte und 1930 nach New York weitergewandert ist. Damit auch die nächste Hundertschaft die Chronik geöffnet findet, hat Oberzaucher mit einem Schuss Humor exakt 101 Knoten, also Namen, ins Netzwerk gemacht. Klar dass Oberzaucher sich mit dem Auswählen der Vorgestellten schwergetan hat, sind doch auch die Liste der kommentarlos ergänzten Namen noch einmal auf 101 angeschwollen. Der Katalog ist schon jetzt schwer genug.
Doch, Achtung, wir leben ja heute und der Blick in die Vergangenheit soll die Künstlerinnen ehren, die Wiener Tanzgeschichte und diesen funkelnden Bereich dokumentieren und sichtbar machen, vielleicht auch nostalgische Gefühle wecken, ob der Kreativität, Selbstbestimmtheit und Durchsetzungskraft der Mädchen und Frauen, doch Kuratorin Amort bleibt nicht im Gestern stecken. Der große gewölbte Saal ist eine Brücke in die Gegenwart und erinnert mit den Objekten auch daran, dass die Wiener Moderne abrupt gestoppt, doch durch die Emigrantinnen in die Exilländer getragen worden ist, die ihre Werke und Lehrmethoden vor allem in Erez Israel bekannt gemacht haben, und bis heute fortleben. In diesem Saal haben zeitgenössische Künstlerinnen das Wort und auch das Bild. Gedanken von zeitgenössischen Tänzerinnen / Choreografinnen finden sich auch im sorgfältig gestalteten Katalogbuch. Die Choreografin und Tänzerin Doris Uhlich teilt ihre „Gedanken“ in einem eigenen Beitrag mit den Leserinnen. An anderer Stelle (Katalog S. 34) sagt sie sehr schön:
Ich bin mit der Vergangenheit verbunden. Ohne die Bewegungen und Visionen anderer Frauen vor mir, wäre ich nicht die Frau und Tänzerin, die ich heute bin. Ich bin in eine Geschichte hineingeboren und ich wünsche mir, dass meine Generation auch Türen für zukünftige Generationen öffnet.
Ich wünsche mir, dass sich nicht nur Doris Uhlich oder die oben genannten Chladek-Schülerinnen und einige andere, sondern alle, die professionell tanzen, choreografieren oder sich als Performerinnen auf die Bühne wagen, erst einmal Geschichte lernen. Die erste Gelegenheit wäre ein ausgedehnter Besuch im Theatermuseum samt intensiven Studiums der Beiträge im Katalogbuch, die dank der Überredungskunst von Andrea Amort ein breites Spektrum abdecken, Fachwissen und Erfahrung der Autorinnen und Autoren zeigen, aber die Leserinnen nicht zuschwätzen. Dann werden sie auch neugierig auf die Tanzgeschichte vor und das Tanzgeschehen nach dem in „Alles tanzt“ beleuchteten Zeitraum entwickeln.
Theatermuseum: „Alles tanzt, Kosmos Wiener Tanzmoderne“, konzipiert und kuratiert von Andrea Amort; Ausstellungsorganisation Gertrud Fischer; Assistenz: Paul Delavos, Inge Gappmaier, Olivia Hild; Gestaltung und Grafik: Thomas Hamann. Bis 10. 2. 2020, Theatermuseum im Palais Lobkowitz, geöffnet täglich außer dienstags 10 bis 18 Uhr.
Informationen über das reichhaltige Begleitprogramm, Führungen mit Expert*innen und Angebote für Schulen: https://www.theatermuseum.at/
Katalogbuch: „Alles tanzt“, herausgegeben von Andrea Amort. Texte: Thomas Aichhorn, Andrea Amort, Arno Böhler, Carol Brown, Brigitte Dalinger, Monika Faber, Johanna Laakkonen, Gunhild Oberzaucher-Schüller, Doris Uhlich und andere. Hatje Cantz, 2019. 384 S. ca. 300 Abb. Im Museum € 35.
Sämtliche Abbildungen: © KHM Museumsverband.