Géraud Wielick: „Ich bin kein Zirkuspferd“
Eros schwitzt. Géraud Wielick auch. Der belgische Tänzer, eine Stütze des Wiener Staatsballetts, wird bei der Nurejew-Gala ’19 den griechischen Gott der Liebe im romantischen Ballett „Sylvia“, choreografisch adaptiert von Manuel Legris, tanzen. Mit dem dritten Akt seiner „Sylvia“ beschließt Ballettchef Legris am 28. Juni den Galaabend und die Saison.
Wielick ist nicht nur ein formidabler Gott, er ist auch das unheilvolle Schicksal, das in Patrick de Banas Ballett „Marie Antoinette“ über der französischen Königin und ihrem Ehemann Ludwig XVI. hängt. Besonders gefallen hat mir der dynamische Tänzer in der Produktion „Die Schneekönigin“ (Premiere Dezember 2015 in der Volksoper), obwohl er auf dem Kopf ein Geweih getragen hat. Doch er war das anmutigste, graziöseste Rentier im Märchenwald. So liebevoll, wie der damals 24jährige Gerda den Weg zu eisigen Königin gewiesen hat, war klar, dass die Geschichte nach Hans Christian Andersen gut ausgehen wird. Im Jahr darauf ist er zum Halbsolisten ernannt worden und hat bald Rollen vollendet getanzt, die für die Ersten Solisten reserviert waren. Aufsehenerregend war sein Debüt als Joseph in John Neumeiers entrümpelter „Josephs Legende“ zur Musik von Richard Strauss. Um den hohen Ansprüchen der Choreografie zu entsprechen und dem Vergleich mit den Ersten Solisten Denys Cherevychko und Davide Dato, die den Joseph ganz unterschiedlich angelegt haben, standzuhalten, durfte Wielick nach Hamburg reisen. Mit Ballettmeistern des Hamburg Ballett hat er seinen höchst eigenen Joseph erarbeitet. Die Partnerin war dann eigens aus Hamburg nach Wien gekommen: Patricia Friza, die von der Wiener Compagnie zum Hamburg Ballett gewechselt hat, hat Potiphars Weib getanzt, die den unbedarften Joseph verführt. Beeindruckend.
Ebenso seine eigene Version konnte Wielick auch als Puck im „Sommernachtstraum“ (Jorma Elo) in der Volksoper zeigen. Kreiert hatte die Rolle Mihail Sosnovschi, doch auch diese Steilvorlage konnte Wielick nicht hindern, seinen persönlichen Waldgeist mit Charme und Bühnenpräsenz zu tanzen. Die Liste der herausragenden Solorollen, die Géraud Wielick gestaltet hat, ist lang. Sie reicht von „Creatures“ von Patrick de Bana über „Lanquedem“ in Legris „Le Corsaire“ bis „Sacre“ von John Neumeier, „Solo“ von Hans van Manen und zuletzt in Tokyo „Labyrinthe of Solitude“ von Parick de Bana. Was er in den sieben Jahren seiner Mitgliedschaft im Wiener Staatsballett alles getanzt hat an Solorollen, kann Wielick nicht so einfach aus dem Ärmel schütteln. Aber eine eindrucksvolle Rolle fällt ihm sofort ein: Gemeinsam mit Dumitru Taran ist er in der Premiere von Jerome Robbins „Four Seasons“ als einer von zwei Zephiren zwischen Winter und Frühling über die Bühne gebraust. Nicht nur die Choreografie ist schön, auch die Musik, Giuseppe Verdi hat die „vier Jahreszeiten“ (auch) komponiert. „Eine eher windige Rolle“, werfe ich ein. Géraud bricht in Lachen aus, was nicht nur seinen Humor beweist, sondern auch die Qualität seiner Deutschkenntnisse.
Geboren ist der Tänzer in der belgischen Stadt Lüttich, als ältestes Kind einer musisch engagierten Familie. Der Vater ist Pianist und hat eine Vertretung für die renommierten Bösendorfer Klaviere. Die Mutter, eine Ärztin, hat neben dem Beruf vier Kinder aufgezogen. Nach Géraud kamen noch drei Mädchen zur Welt. Keine schlechte Übung im Umgang mit der weiblichen Welt für den großen Bruder. „Meine Schwestern wollten auch alle tanzen, doch nach zwei Jahren hat jede wieder aufgegeben.“ Géraud hatte eigentlich anfangs eine Karriere als Pianist, wie der Vater, vor. Immerhin hat er Klavierspielen und auch Geige gelernt, doch dann schaute er den Mädchen in seiner Klasse zu, wie sie die Hände in die Taille legten und die Beine schleuderten: „Wir hatten einmal im Monat ein musisches Freifach, dabei war auch Tanz. Die Mädchen wollten alle Ballerinen werden, wir Buben wollten alle schauen, was sie da machen.“ Géraud hat Feuer gefangen und seine Laufbahn mit Jazztanz und Hip-Hop begonnen. Vielleicht ein Protest gegen Beethoven und Schubert, mit denen der Teenager zu Hause aufgewachsen ist. Beim akrobatischen Bewegungsvokabular ist es nicht geblieben. In einem Sommerkurs ist ein Lehrer auf den 14jährigen aufmerksam geworden, hat Gérauds Musikalität, seine ausdrucksvollen Bewegungen und die gute Haltung gelobt und ihm eine Ballettausbildung vorgeschlagen. Der Vater – eine Ausnahme – war sofort begeistert, ermutigte den Sohn. „Du verlierst nichts, das klassische Ballett ist eine Basis, die für vieles brauchbar ist.“ Die Mama legte keine Steine in den Weg, und Géraud begann seine Ausbildung an der königlichen Ballettschule in Antwerpen und setzte sie später in der San Francisco Ballet School fort. Bald war er in der Jugendtruppe, doch dann neigte sich die Aufenthaltserlaubnis dem Ende zu. „Es war ein Dilemma. Ich habe nicht gewusst, was ich machen soll. Das Jahr ging zu Ende, einen Vertrag würde ich erst in sechs Monaten bekommen, wenn überhaupt. Und dazwischen? Ein Tänzer kann nicht herumsitzen, da verliert er die Kraft. Ich schon gar nicht, wenn ich nichts zu tun habe, werde ich ganz schlaff. Die Lehrerin sagte ‚Fahr zurück nach Europa‘. Vielleicht hat sie gemeint, ich hätte ohnehin keine Chance in San Francisco.“ Dann rollte die Kugel auf die richtigen Zahlen: „Am 1. Jänner 2012 bin ich aus San Francisco abgeflogen, am 15. habe ich Manuel Legris vorgetanzt und er hat genickt. Ich war engagiert.“ Im Oktober ist der Neue bereits aus dem Corps de ballet durch Spannung und Energie hervorgestochen.
Ganz einfach war der Beginn nicht. Das Ensemble war unter der kurzen Direktion Manuel Legris seit 2010 / 11 gerade dabei, seine Identität zu finden und zusammenzuwachsen. Eindringlinge sind damals noch nicht mit offenen Armen empfangen worden. „Einfach war es nicht. Fremd in der Stadt und allein. Dennoch war es für mich nicht so schwierig, ich bin es gewohnt, ein Außenseiter zu sein. Ich bin Wallone, also französich sprechend, doch mein Vater schickte mich nach Tongeren, eine kleinen flämischen Stadt, in die Schule. Dort war ich ein Ausländer, unter den Wallonen dann sowieso auch.“ Im zweigeteilten Belgien sind sich auch die Bürger*innen oft fremd. „In einer Ballettcompagnie sind ohnehin alle Ausländer“, bemerkt Wielick richtig. In Wien kommen Tänzerinnen und Tänzer aus mehreren Kontinenten, aus Europa, Asien und den USA. Die Handvoll in Österreich Geborenen, sind ebenso Minderheit wie ihre Kolleg*innen. Französisch als Ballettsprache zieht sich immer weiter zurück, sogar der aus Frankreich stammende Ballettchef muss Englisch sprechen, damit ihn wirklich alle verstehen, die Fachausdrücke bekommen einen neuen Akzent. Mit seinen Kolleginnen und Kollegen spricht auch Géraud Wielick Englisch, doch ist es ihm auch gelungen, sein Deutsch zu vervollkommnen. Nicht alle Tänzer sind interessiert, die Sprache des Gastlandes zu lernen, wer weiß wo sie morgen sein werden.
2016 wurde Wielick zum Halbsolisten ernannt. Wieso ist er trotz der schönen Rollen, die er interpretieren darf, auf der Karriereleiter nicht höher geklettert? So genau kann er das eigentlich nicht sagen, doch ganz sicher ist er keiner, der sich, vom Ehrgeiz zerfressen, nach vorne boxt. „Vielleicht war ich anfangs etwas nachlässig, ich mag eigentlich die Proben im Ballettsaal nicht so gerne, da kommen mir viele Stücke nicht so besonders vor. Erst wenn ich auf der Bühne stehe, bin ich wirklich voll dabei und fühle mich wohl. Dann muss ich auch bei schwieriger Musik gar nicht zählen, sondern tanze einfach los mit der Musik, ob klassisch oder elektronisch.“ Natürlich freut ihn Applaus, „aber ich bin kein Zirkuspferd, das um der Claque willen eine Show zum Besten gibt.“ Lachend formuliert er: „Ich bin Bühnentänzer, nicht Showtänzer.“ Géraud Wielick horcht in sich hinein und findet, dass er „irgendwie schon mit einem Pferd verwandt“ sei. „Ich meine, ich bin so ein Rennpferd, das hin und wieder die Peitsche braucht. Wenn man mich einfach nur lässt, geht gar nichts. Ich brauche die Motivation, den Antrieb.“ Dann aber wird seine Leidenschaft zum Erlebnis des Publikums. Auch wenn der Schweiß in Bächen rinnt (nicht ihm allein, sondern allen, die in der Dampfkammer Ballettsaal für die Gala probieren, probieren, probieren), kämpft er mit vollem Einsatz als wilder Eros mit dem Räuber, erklärt Diana die Liebe und ebnet so Sylvia und Aminta den Weg ins Glück. Im romantischen Ballett, da.
Porträt von Géraud Wielick, Eros in „Sylvia“, Nurejew Gala 2019, 28. 6. 2019. Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Fotos, wenn nicht anders angegeben: Ashley Taylor. © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor