Doris Uhlich: „Spitze“, neu im Theatermuseum
Emotionalität in Form. Die Tänzerin und Choreografin Doris Uhlich holt die Vergangenheit in die Gegenwart, weckt Erinnerungen an das romantische Ballett und wird selbst zur Ballerina. Mehr als 10 Jahre nach der Premiere hat sie ihr Erfolgsstück „Spitze“ mit Susanne Kirnbauer und Harald Baluch neu einstudiert und zeigt es als lebendige Ergänzung der Ausstellung „Die Spitze tanzt“ im Theatermuseum. Die Tänzerin und der Tänzer, Kirnbauer und Baluch, erinnern sich, Uhlich zieht die Spitzenschuhe an, hebt sie Arme, tanzt eine Arabesque. Man muss sie lieben, all drei.
In meiner Erinnerung ist die erste Fassung von „Spitze“ durch den Humor und die Ungeniertheit der einstigen Solotänzerin im Ballett der Wiener Staatsoper Susanne Kirnbauer überaus witzig. Damals schon hat Doris Uhlich, als Choreografin bereits auf dem Trampolin zu internationalem Erfolg, ihrer Sehnsucht nach dem Schweben und Fliegen Ausdruck gegeben. Ihr Strahlen als sie am Ende des eindrucksvollen Balletts vom Tänzer Harald Baluch, ehedem Solotänzer im Ensemble der Volksoper, jetzt als freier Tänzer und Choreograf tätig, hochgehoben worden ist, werde ich nie vergessen. In der Neufassung – nicht nur Uhlich, auch Kirnbauer und Baluch sind zehn Jahre älter geworden – ist der Grundton ernster geworden, Kirnbauer erzählt nicht mehr mit Pointen, sondern zeigt Freud und Leid einer Ballerina mit dem Körper und in hingeknallten Befehlen aus dem Ballettunterricht. Wütend und energisch stampft sie in schwarzen Stiefeln und Tutu unter dem Lederrock über die Bühne, lässt sich erweichen, zieht die nagelneuen, rosa Spitzenschuhe an, hebt die Arme, lächelt, ist wieder jung, ein entzückendes Dornröschen, eine resolute Kitri. Baluch wird zum Prinzen, tanzt einen Pas de deux aus Schwanensee, die Schwanenkönigin ist aus Luft, abwesend. Genau kann die Arbeit des Ballerinos studiert werden, sie ist ohnehin in der Erinnerung vorhanden, die luftige Partnerin, die gedreht und gehoben wird. Faszinierend.
Die Risiken und Schmerzen, das beglückende Gelingen und das niederdrückende Scheitern werden in dieser intensiven und hochemotionalen Choreografie ebenso thematisiert wie die Routine oder auch mögliche Langeweile auf der Bühne. 62 Mal war Harald Baluch Solist in „Schwanensee“…
Doris Uhlich hat keine Parodie im Sinn, lässt sich auch nicht von Pathos und Sentimentalität verführen, hat jedoch hart geprobt, um neben Kirnbauer, in deren Körper immer noch ein verzauberter Schwan steckt, bestehen zu können. Baluch und Kirnbauer haben ihren letzten Auftritt, verbeugen sich gekonnt – auch das muss geübt werden – an der unsichtbaren Rampe.
Die Bühne gehört Doris Uhlich, unterstützt vom Tänzer Baluch. In schwarzer Turnhose, ebensolchem Oberteil, an den Füßen die Schuhe mit der verstärkten Spitze. Wie jede Ballerina es tun muss, werden die Schuhe vor dem Auftritt weich getreten, dann erst, Position, Préparation, Piqué, Jeté, Allongé, Arabesque, oder wie die Befehle und Begriffe in der Schule des romantischen Balletts alle heißen. Doris Uhlich beherrscht sie, tanzt sie, ein Lächeln umspielt ihren Mund, ein Strahlen erhellt die dunklen Augen. Sie ist nicht Sylphide, nicht Dornröschen oder Giselle, sie bleibt auch in Spitzenschuhen eine Tänzerin und Choreografin des 21. Jahrhunderts, meistens mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehend, pragmatisch und erfolgreich. Nur dieser kleine Stachel im Fleisch, diese Sehnsucht nach der inneren Prinzessin im Tüllröckchen, die muss auch gestillt werden.
Mit großen, dunklen Augen im ernsthaften Gesicht steht Doris Uhlich auf der Bühne, lässt ihre zarte Stimme vom Theremin (gespielt von der 1998 in New York verstorbenen Virtuosin Clara Rockmore) begleiten, wenn sie den „sterbenden Schwan“ aus Camille Saint-Saëns „Le carnaval des animaux“ intoniert. Ich habe das starke Bedürfnis, sie zu umarmen, die beiden Mitwirkenden sowieso auch.
Doris Uhlich: „Spitze“. Choreografie: Doris Uhlich. Mit Harald Baluch, Susanne Kirnbauer, Doris Uhlich. Dramaturgie: Andrea Salzmann. Musik: Aus den Balletten „Don Qixote (Léon Minkus) und „Dornröschen“ (Peter Tschaikowski), „Der Schwan aus dem Karneval der Tiere, getanzt als „Der sterbende Schwan“ (Camille Saint-Saëns) in the Art of The Theremin von Clara Rockmore. Kostüm: Zarah Brandl; Licht und Ton: Gerald Pappenberger; Technik Theatermuseum: Andreas Riedel. Uraufführung am 25. April 2008, brut / Wien. Neueinstudierung: 24. Mai 2019, Eroica-Saal, Theatermuseum, Wien im Rahmen der Ausstellungen im Theatermuseum „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“ und „Die Spitze tanzt. 150 Jahre Ballett an der Wiener Staatsoper.“, beide kuratiert von Andrea Amort.
Drei weitere Vorstellungen: 25. Mai, 16 und 19.30 Uhr; 26. Mai 2019, 19.30 Uhr.
Fotos: © Andrea Salzmann.