Damien Jalet erfinden den Tanz für jedes Medium neu
Ein Film wie ein Karussell: Alles dreht sich, alles bewegt sich, alles singt und tanzt, auf der Straße und auch auf dem Tisch. Bei den Filmfestspielen in Cannes vorgestellt und mit Preisen bedacht, hat Emilia Pérez von Jacques Audiard in Paris bereits mehr als eine Million Zuseherinnen begeistert. Ab 28. 11 ist der Film auch in den Wiener Kinos zu genießen.
Als Hurrikan fegt die Kamera von Paul Guilhaume durch die Genres. Gangsterfilm, Krimi, Musical, Show, Telenovela, was durchaus liebevoll mit Schnulze, Herz und Schmerz zu übersetzen ist, das alles in fünf Akten wie in einer Oper. Die Handlung zu erzählen erübrigt sich, Filmfans wissen längst, worum es geht: Im Kern um den Drogenboss Manitas, der aussteigen will, um endlich zu werden, was er wirklich ist: eine Frau. Geld hat er genug, doch Geld allein, so sagt man gern, wenn man zu wenig davon hat, macht nicht glücklich.
Der Schauplatz ist Mexiko City, wo die Bewohnerinnen sogar bei Begräbnissen singen und tanzen, samt den Drogenbossen und ihrem Clan. Im Film ist dafür der französisch belgische Tänzer und Choreograf Damien Jalet zuständig, und der tanzt mit Vergnügen auf allen Hochzeiten, bewegt sich auf dem Ballettboden ebenso routiniert wie am Filmset oder im Museum. In Wien ist er schon fast zu Hause. Im ImPulsTanz Festival leitet er Workshops und Rechercheprogramme, tritt als Tänzer und auch als Choreograf auf. Gern schiebt er zwischen seine neue Arbeit in Japan eine Wienreise ein, um bei der-Premiere von Emilia Pérez im Rahmen der Viennale dabei zu sein und mit dem Publikum zu plaudern.
Hat er den Film nicht schon oft genug gesehen? „Nein“, sagt der Choreograf, „ich sehe jedes Mal andere Details. Eine Choreografie für die Bühne ändert sich immer wieder, Tanz ist ephemer, flüchtig. Eine Choreografie ist immer eine Momentaufnahme. Man kann dasselbe Tanzstück nicht zweimal sehen. Im Film ist jeder Moment eingefroren und bleibt auf immer gleich.“ Klar, dass sich die Arbeit für den Film von der mit live auftretenden Tänzern unterscheidet: „Das Kino hat eine andere Sprache als die Bühne. Da sitze ich nicht auf einem Sessel und warte, was die Tänzer anbieten. Eine Tanzvorführung geschieht in einem Rahmen, wir sind immer auf einer Bühne gegenüber einem Publikum. Ein Film hat diesen festen Rahmen nicht, man bewegt sich von draußen nach drinnen, auf der Straße, im Restaurant, im Schlafzimmer. Aber man hat nicht so viele Möglichkeiten zu erproben, wie ein Körper reagiert, die Akteure sind jedoch perfekt vorbereitet. Sie wissen, es gibt kein ‚nächstes Mail mache ich es besser‘. Man hat weniger Möglichkeiten als auf der Bühne, bestenfalls kann man ein wenig mit den Zeiteinheiten spielen. Doch da ist auch noch die Kamera, die ihre eigene Aufgabe hat. Sie zeigt ein völlig anderes Bild des Körpers als auf der Bühne zu sehen ist. Sie kann die Perspektive fließend ändern und ganz nah an die Körper herangehen. Das heißt, sie wird selbst zum Choreografen. Es gibt so viele Elemente, die man für eine Filmchoreografie von Anfang an bedenken muss. Man kann nicht abwarten, wie sich die Chose entwickeln wird.“
Doch Jalet schätzt in der Arbeit mit den unterschiedlichen Medien genau diese Schwierigkeiten. „Bühne, Laufsteg, Kino: Es sind immer neue Bedingungen, die eine andere Arbeitsweise verlangen. Ich mag diese unterschiedlichen Dynamiken, die sich ergeben. Ich kann den Tanz immer wieder neu erfinden.“
Jalet, 1976 in Ukkel geboren worden, hat in Brüssel Schauspiel und Modern Dance studiert und auch Musikethnologie in Paris studiert. Seine Karriere begann er 1998 bei Wim Vandekeybus, seit 2000 arbeitet er intensiv mit Sidi Larbi Cherkaoui zusammen. Ihre erste gemeinsame Arbeit, D’avant, entstanden 2002 in Berlin, war auch in Wien zu sehen. Interessiert an sämtlichen Medien, arbeitet er mit Ballettcompagnien ebenso zusammen wie mit Theaterregisseuren, Show-Größen und Pop-Stars. 2013 ist Jalet in zum Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres ernannt worden.
Gefragt nach seiner Tanzsprache, erklärt Jalet, dass die Schwerkraft im Zentrum seiner Arbeit steht. „ich will die Schwerkraft benützen, um gegen sie anzukämpfen oder einfach hineinzufallen. Die Tänzer sollen, indem sie sich darauf konzentrieren, ihren Tanz zu verstärken. Dabei entsteht neue Energie, eine nahezu universelle Energie, zugleich poetisch und wissenschaftlich.“ Augenfällig hat Jalet seine Vorstellung mit der Göteborgs Operans Danskompani. Für die mit ihnen einstudierte Choreografie, Skid, bewegten sich 17 Tänzerinnen auf einer um 34 Grad geneigten Plattform.
Die Arbeit mit Regisseur Audiard und den Darstellerinnen hat ihm besondere Freude gemacht, nicht nur, weil er gern im Team arbeitet, sondern auch, weil ihm das Thema zusagt. „Der traditionelle Pas de deux zwischen Männern und Frauen interessiert mich überhaupt nicht. Mir gefällt diese Idee der Auflösung, bei der das Geschlecht eher mit einem Geisteszustand verbunden ist.“ In die Regie hat er sich nicht eingemischt, auch mit der Wahl der Darstellerinnen – Karla Sofía Gascón als Emilia / Manitas, Zoe Saldaña als hilfreiche Anwältin Rita und Selena Gomez als Manitas‘ Ehefrau, Jessi – war er zufrieden. „Im Grunde habe ich mich nur um die Tanznummern gekümmert. Ein einziges Mal habe ich eine kleine Änderung im Setting verlangt. Karla Sofía Gascón, die Emilia, ist keine Tänzerin, da musste ich reduzieren.“ Getanzt wird auch von Gruppen auf den Straßen, Musik und Rhythmus dazu liefern Clément Ducol und Camille (Dalmais). Der Tanz endet abrupt im letzten Kapitel des Films. Die fröhliche Show wird zur Tragödie. Der Tod hat die Choreografie übernommen.
Jacques Audiard: Emilia Pérez, ab 28.11. 2024 im Kino.
Filmstills: © Neue Visionen Filmverleih, Wild Bunch Germany
Das Interview mit Damien Jalet habe ich im Viennale-Büro am 29.10.2024 geführt.