
Dunkelheit im kolonialen Raum

Zoë erzählt von dem Archiv ihres Vaters, dem Kriegsjournalisten Daniel Demoustier. In Unfolding an Archive arbeitet sie subjektiv aus der Perspektive einer Tochter, deren Vater an verschiedenen Kriegsschauplätzen gearbeitet hat. Er kam mit Ton- und Videomaterial zurück, das Zoë beim Erwachsenwerden begleitet hat. Während ihrer Residence 2021 im STUK, Tanzhaus in Leuven hat sie die Archive zum ersten Mal entfaltet. ImPulsTanz zeigt die Stunde mit Zoë Demoustier zweimal im WuK.
Zoë vermischt diese Erinnerungen mit Musik aus der Popkultur, die einen Aufprall der Welt der Kriegsberichterstattung und der mädchenhaften Teenagerzeit provoziert. Ihr Vater ist in dieser Produktion auch als Tontechniker engagiert und steuert einen großen Teil der Arbeit, die Soundscapes, bei. Die Arbeit von Zoë ist interdisziplinär und performativ angelegt. Sie streut Salz oder eine ähnliche weiße Substanz auf die Bühne und zeichnet so eine abstrakte Karte von verschiedenen Orten, an denen die später dargestellten pantomimischen Illustrationen stattfinden werden. Der erste Teil des Stücks ist ruhig und beschränkt sich darauf, diese Karte zu zeichnen, während im Hintergrund ein Gespräch zwischen Zoë und ihrem Vater Daniel mit Übertiteln verfolgt werden kann.
Ab der zweiten Hälfte des Stücks beginnt Zoë zu tanzen oder besser gesagt, die Schauplätze pantomimisch zu aktivieren. Die Tonaufnahmen spielen dabei eine große Rolle, sie überlappen einander und kreieren das Gefühl der Rückkehr in die Vergangenheit. Fragmentarische Erinnerungsfetzen zeigen Zoë in einer intimen Situation von Überforderung und dem Willen, die Situation anzunehmen und zu verkörpern. Es ist das Archiv und das Leben ihres Vaters, das sie als Kind geprägt hat und das sie als erwachsene Frau immer noch in sich trägt.
Doch die künstlerische Darstellung ist recht illustrativ und das schlicht verkörperte Bühnenmaterial lässt wenig Raum für individuelle Interpretationen und den Verhandlungsspielraum von Perspektiven und Meinungen zum Werk ihres Vaters. Außer einer verwischten Landschaftsaufnahme aus dem Fenster eines Zugs vermeidet Zoë Videos und Fotos – eine bewusste Entscheidung. In einem Interview mit der Dramaturgin Elowise Vandenbroecke sagt sie: „… das Theater bietet wieder einen anderen Rahmen, um das alles anders unter die Lupe zu nehmen“ und meint damit die Parallelen von Journalismus und plakativer Bilddarstellung und Theater als experimenteller Raum.
Dennoch stellt sich die Frage nach Kolonialgeschichte und wie mit Archivmaterial umgegangen wird. Es fehlten Fragestellungen wie: Was ist der Blick eines Journalisten in Kriegsgebieten? Welche Rolle spielt die Identität dieser Person? Was ist der westliche Blick? In den Gesprächen zeigt Ihr Vater sich offen, erzählt, dass sein Job sehr spontan ist und dass er immer bereit für eine neue Reise und eine neue Story war. Dies wird nicht kritisch behandelt. Es wäre jedoch wichtig, auch diesen Aspekt zu thematisieren
Theater bietet einen Raum, um alltägliche Praktiken kritisch zu hinterfragen und dem Publikum neue Denkansätze zu bieten, die eigene Position zu kritisieren und Reflexion zu kultivieren.
Zoë ist eine herausragende Tänzerin und als Teil des Ultima-Vez-Ensembles auch in hochprofessionellen und technisch orientierten Stücken zu sehen. Als Soloprojekt ist dieses Stück ein erster Versuch, um aus dieser Welt weiterzugehen und eigene Schritte zu machen. Es ist technisch auf der sicheren Seite, denn Ton, Dramaturgie und Choreografie sowie Licht und Bühnenbild sind sehr stimmig aufeinander eingestellt. Für mich fehlt es an Provokation, riskantem Spielraum und Fragestellungen. Wie der Titel Unfolding an Archive schon sagt, öffnet Zoë das Archiv und zeigt vor allem mit Soundscape und Pantomime, was darin steckt. Es ist zwar spannend und intim, diese Inhalte gestapelt aufzuzeigen, aber es rüttelt nicht an gesellschaftlichen Dynamiken, die von Machtverhältnissen, kolonialer Geschichte und dem westlichen Blick auf Konflikte geprägt sind. Mir fehlt die Reflexivität im Stück, die möglicherweise durch Recherche und individuelle Haltungen der Beteiligten vorhanden ist, aber thematisch und ästhetisch im Stück nicht angesprochen wird. Es ist schade, denn eigentlich bietet dieses Archiv und die technischen und künstlerischen Möglichkeiten der Künstlerin sowie der beteiligten Personen eine große Möglichkeit, auch kritische Aspekte des Journalismus und eines Archivs über Katastrophen zu behandeln.
Zoë Demoustier / Ultima Vez: Unfolding an Archive, ImPulsTanz im WuK. 5. + 7. August 2024.
Choreografie und Performance: Zoë Demoustier
Live-Sound: Willem Lenaerts; Soundkonzept: Willem Lenaerts und Rint Mennes; Video- und Soundarchiv: Daniel Demoustier
Licht: Harry Cole; Beleuchtung und Technik: Pieter Kint, Kostüme: Annemie Boonen
Interview und Schnitt: Yelena Schmitz; Recherche: Annemie Boonen und Willem Lenaerts; Dramaturgie: Elowise Vandenbroecke
Uraufführung: 2021, STUK, House for Dance, Image and Sound, Leuven.
Fotos: © Tom Herbots