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Kalte tanzen länger

„FrostBite“ in weißer Raumlandschaft..

Mit ihrer Performance FrostBite (FrostBeule) ist die 1997 geborene baltische Performancekünstlerin und Absolventin der Amsterdamer School for New Dance Development (SNDO) Jette Loona Hermanis im Rahmen von [8:tension] zum ersten Mal bei ImPulsTanz zu Gast. Gemeinsam mit den interdisziplinär arbeitenden lettischen Künstler:innen Anna Ansone und Krišjānis Elviks entführt Hermanis rund 70 Minuten lang in eine dystopische Kältekammer.

Jette Loona Hermanis, das erste Mal zu Gast bei ImPulsTanz.Es ist kalt, sehr kalt im großen Saal des WUK an diesem frühen Abend. Unvorbereitet – einzig die fast schon obligate Warnung, dass es laut werden und Stroboskoplicht zum Einsatz kommen wird, erhascht man nebenbei an der Garderobe – und daher großteils sommerlich leicht bekleidet entert das Publikum eine postapokalyptische Behausung, in der sich zwei, bald schon drei, dann vier Wesen so gut es geht gemütlich machen. Während man sich auf den Stühlen langsam an die Raumtemperatur zu gewöhnen versucht, kehren zwei Frauen, von denen eine in einer Bauchtrage ein Kind mit sich führt, nach Hause zurück. Zuhause, das ist in diesem Falle eine weiße Raumlandschaft, in der sich ein alter fetzenumhüllter Lehnstuhl, allerlei Fashion-Accessoires, eine Badewanne und, im Vordergrund, eine Ansammlung waldgrüner Eistierfiguren, die im Laufe des Abends vor sich hin vergehen, befinden. Die beiden supermodelähnlichen Wesen packen zuerst sich und dann ihr Baby aus, das eher einem braunen Alien, dem schon die ersten Borsten wachsen als der in der Ankündigung erwähnten Wurzel gleicht. Hermanis ist auf der Bühne eine einsame Kreatur,die letzte Überlebende ihrer Spezies.  Mit allerlei Schleim wird das Kind gefüttert, und dieser Schleim, mal rosa, mal grün, ist es auch, der sich über weite Strecken als zentrales Motiv über die episodenhafte Objektchoreografie dieses Abends ergießt. Schließlich stülpt sich aus einer mintgrünen Nylondecke noch eine weitere, nichtbinäre Figur (Elviks). Von nun an ist auch sie, ausgemergelt und in Lumpen gekleidet, Teil dieser so ungewöhnlichen wie unvertrauten Menschengruppe. Man nährt einander, ohne je zu lächeln, ergeht sich in gängigen erotischen Übungen, konsumiert Drogen oder hungert sich in einen tödlich kalten Rauschzustand, tanzt ekstatisch oder wippt auch mal gemütlich zu dritt am Schaukelstuhl, während man aneinander nuckelt. Schön könnte es sein, wäre diese Welt heil. Doch das ist sie nicht.Erotikspiele mit Frostbeulen, doch ohne Lächeln.
Bereits in ihrer 2022 gemeinsam mit dem Choreografen Johhan Rosenberg entwickelten Produktion Eden Detail, die mit dem Estonian Theatre Award in der Kategorie Tanz ausgezeichnet wurde, kreierte die älteste Tochter des vielfach ausgezeichneten lettischen Theaterregisseurs Alvis Hermanis eine posthumane Landschaft, in der nur noch eine Entität – Endling – überlebt hat, eine, so Hermanis, „einsame Kreatur, die die letzte Überlebende ihrer Spezies ist“. Jette Loona Hermanis versetzt das Publikum in eine performative Post-Internet-Welt. Mit ihrer Soloperformance Endling war Hermanis Ende 2023 im Rahmen der Ausstellung Through the Black Gorge of Your Eyes im Kumu Art Museum zu Gast. Erneut zeigte sie eine postapokalyptische Figur, die sich nach Gemeinschaft (companionship) sehnt und in ihrer Einsamkeit Situationen erfindet, die ihr so etwas wie Erfüllung, zumindest Befriedigung schenken. In FrostBite scheint Hermanis’ performatives Alter Ego so etwas wie eine Familie gefunden zu haben, den Nukleus einer posthumanen Überlebenseinheit, die es sich zwischen Kunststoff und Zerfall gemütlich zu machen versucht.
Es wird viel verhandelt in FrostBite: Klimawandel und was, in the end, auf diesen folgt: eine neue Eiszeit. Dazu noch: Sehnsucht nach Nähe, der Zwang, sich an all die althergebrachten gesellschaftlichen Konventionen zu halten (Schönheit, Perfektion, Ausdauer, Partyfähigkeit ...), Fürsorge, ohne sich selbst je aus dem selbstreferenziellen Zentrum zu schieben. Nähe kippt in FrostBite beständig in brav deklinierte Erotikspiele, Spaß in exzesshafte Rituale, Ausdauer in metallene Party-Moves, die ihrerseits beständig ausarten, Magersucht wird ebenso deutlich zitiert wie die Folgen von Drogenkonsum – „Träne/Kind, Spirale/Jugendliche“ heißt es im Programmzettel. Eine kalte, eiskalte Welt ist es, in der man schließlich im blauen Licht der Dancefloor-Beats zum Endprodukt, im Falle von FrostBite also zum erwachsenen Doughnut wird. Eisblau und eiskalt, die Bühne im großen Saal des WuK. Hermanis’ Coming-of-age-Erzählung reiht sich nicht unbedingt in jene, in denen gemachte Erfahrungen zu Reife und sozialem Handeln führen: Die Rituale von Gemeinschaft und Familie wirken von Beginn bis Ende eingeübt, routiniert ausgeführt, aber ohne jede Emotion. Die Kälte, die den gemeinsamen Raum dominiert, ist so konzeptuell wie real. Die Figuren mögen Situationen erleben, erwachsen werden – eine Entwicklung im konventionellen Sinne ist bei FrostBite jedoch nicht das Ziel, bleiben die Stadien, die mit Badeschaum und Babyöl, Spielzeug-Einhörnern und anderem pastelligen Plastikzeug, darunter – über weite Strecken – Babyschnuller mit bunten Polyclay-Erweiterungen, eingeläutet werden, statisch. Hier bewegt sich nichts mehr. Narben hat man eben, und das Beste, das sie liefern, sind dunkel-zähe Flüssigkeiten, die man auch gerne mal per Einwegspritze an andere weitergibt.
So fern die Wesen dieses Abends auch scheinen mögen, so düster die von Hermanis, Ansone und Elviks kreierte performative Post-Internet-Welt ist, so real sind doch die Versatzstücke dieser teils gar deutlich anspielungsreichen Ego-Emo Fairytale.

Jette Loona Hermanis und Anna Ansone: FrostBite,  ImPulsTanz / [8:tension] im WUK, 1. und 3.8.2024
Konzept, Bühnenbild, Kostüme und Choreografie: Jette Loona Hermanis und Anna Ansone
Performance: Jette Loona Hermanis, Anna Ansone und Krišjānis Elviks
Polyclay-Objekte und Poster: Sofija Frančeska Putniņa; Prothesen: Martina Gofman; Sound: Jette Loona Hermanis
Fotos: © Edgards Drusts