Nikolaus Adler: Balthazar, Neubearbeitung, WUK
Der Esel tanzt wieder. Nicht auf dem Eis, sondern auf der weiß ausgekleideten Bühne im WUK. Oder in meinem Kopf. Choreograf Nikolaus Adler hat sein Tanzstück „Balthazar“, inspiriert von Robert Bressons († 1999) Film „Au hasard Balthazar“, überarbeitet und ein Gesamtkunstwerk aus Licht, Ton und Tanz, wirklichem Tanz, ausdrucksstark und präzise, gezeigt. Natürlich ohne Esel, der ist der Titelgeber und auch Metapher für das menschliche Leben, von der Geburt bis zum Tod. Den stirbt Balthazar im Film inmitten einer Schafherde. Gelassen und mit Würde.
Das Bühnenbild von Sarah Haas ist unverändert: Tannenbäume symbolisieren, verkehrt von der Decke hängend, den Wald, kleine Grashäufchen auf dem Boden die Wiese. Im Hintergrund zwei weiße Bahnen, die viele Deutungsmöglichkeiten zulassen: Filmleinwand, Abhang in der felsigen Filmlandschaft oder auch die leere Projektionsfläche, auf die die Zuschauer ihre Gefühle und Assoziationen verlagern können. Die Tänzerinnen und Tänzer – Laura Fischer, Katharina Illnar, Florian Pizana, Pal Szepesi, Xianghui Zeng, alle beweglich und ausdrucksstark, Profis von höchstem Rang – sollen durch Gesten und Mimik Gefühle evozieren, aber selbst keine haben. So wollte es Bresson, so will es Adler. Es ist gelungen.
Schon zu Beginn, wenn Laura Fischer, eine Tänzerin, die auch deutlich sprechen kann (emotionslos natürlich), die Schlussszene des Films beschreibt – „…langsam, ganz langsam senkt der Esel den Kopf“ –, brennen die Augen. Adler lässt mich nicht, noch nicht, weinen. Mit köstlichen Slapstickeinlagen wirft er das Publikum aus dem Gefühlsbad, lässt die Arbeit der Kamera schildern – Totale, Halbtotale, Schwenk, Extremtotale, Glockengeläut –, die Tänzer*innen klöppeln mit den Fingern, Pizana referiet aus dem Tierlexikon über den Hausesel, die Tänzer*innen wackeln mit den zu Ohren geformten Händen. In Adlers Ironie hat auch die Pantomime Platz, wie Kinder zeigen die Darsteller*innen fließende Tränen, ducken sich unter dem Regen. Später erklärt die Stimme Robert Bressons, warum er gerade einen Esel als Hauptdarsteller seines, mit vielen Nebenhandlungen angereicherten Films, für den er auch die Personen von Laien darstellen ließ, gewählt hat. Nicht nur weil der, als Freund und Wärmespender für das kleine Jesulein im Stall, Zutritt zur Kirche hat, sondern auch weil sein Lebenszyklus im Grunde dem der Menschen gleicht: Geburt und fröhliche Kindheit, Arbeit und Leid, Alter und Tod. Als Schimpfname für Dummheit ist „Esel“ im Französischen nicht so gebräuchlich wie im deutschen Sprachraum.
So darf ich völlig ohne jemanden zu beleidigen sagen: Alle Tänzer*innen sind Esel, manchmal auch Schafe oder ein Hirtenhund. Die Natur spiel in diesem wundervollen Tanzstück eine wichtige Rolle. Man hört Vögel kreischen, Wasser plätschern und den Wind heulen (Musik und Komposition von Martin Klein), das Licht (Markus Schwarz) zaubert den Sonnenuntergang und den dichten Wald herbei, zeigt die Dämmerstunde, wenn die Liebe erwacht, und die Nacht, wenn der Alltag abfällt. Die Tänzer*innen schöpfen Bewegungen, Gesten und Mimik aus ihrem Körper, so sind sie alle Choreograf*innen, die nach den Vorgaben Adlers arbeiten. Eine überaus reiche, vielfältige Tanzsprache ist zu sehen und eine ebenso reiche Gefühlspalette zu fühlen. Zärtlichkeit und Freude, Schmerz und Trauer, Liebe, Neid und Eifersucht und auch Aggression wechseln wie auf der Schaukel. Besonders eindrucksvolle innige Pas de deux und Filmstills, für Sekunden erstarrte Gruppen, geben der Emotionsschaukel immer neuen Schwung. Einmal liegen Pal Szepesi und Xianghui Zeng nebeneinander, übereinander auf dem Boden und was anfangs wie eine Liebesszene aussieht, wandelt sich zur Vorfreude auf die Geburt eines Kindes, es sind Frauen, die aneinander die Hand vorsichtig auf den Bauch legen. Ein Kind wird geboren und geheiratet wird auch, vor Freude fliegt Florian Pizana durch die Luft, schlägt einen Purzelbaum. Katharina Illner und Laura Fischer, die beiden in ihren Bewegungen und der Gestik unterschiedlichen Tänzerinnen, die wie Pizana bereits an der ersten Fassung von 2016 mitgearbeitet und getanzt haben, bilden nicht allein das zarte Element in dieser losen Szenenfolge, in der Adler auch immer wieder auf den Ausgangspunkt, einen Film, Bezug nimmt. So sind auch die einzelnen Takes zu verstehen, und wenn das Kind vor der Hochzeit geboren wird und Balthazar mehrmals stirbt, so ist das wie bei Filmdreharbeiten. Gedreht wird keineswegs in der erzählten Chronologie. Der Standfotograf macht seine Arbeit, der Kameraassistent schlägt die Synchronklappe, Totale, Halbtotale, Schwenk.
Am Ende darf noch einmal jede und jeder Balthazar sein und sterben. Jede (jeder) stirbt ihren (seinen) eigenen Tod. Für sich allein. Die einen gelassen und würdevoll, ein anderer wütend dagegen ankämpfend, um sich am Ende doch zu fügen. Jetzt darf ich wirklich weinen. Nicht nur, weil ich so gerührt bin, sondern auch weil’s so schön war.
„Balthazar“, ein Tanzstück. Konzept, Choreografie und künstlerische Leitung: Nikolaus Adler. Tanz und Choreografie: Laura Fischer, Katharina Illner, Florian Pizana, Pal Szepesi, Xianghui Zeng. Raum- und Bilddramaturgie: Sarah Haas; Kostüm: Moana Stemberger; Lichtdesign: Markus Schwarz; Musik und Komposition: Martin Klein. Premiere: 26. April 2018, WUK.
Noch zwei Vorstellunen am 27. und 28. April 2018.
Fotos: salamonski.at.